Epidemiologe Salathé löscht seine Tweets
Die Selbstzensur des Professors

Der Epidemiologe forscht viel mit Twitter-Daten – doch seine eigenen Tweets löscht er. Die Begründung ist bemerkenswert.
Publiziert: 25.10.2020 um 02:18 Uhr
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Aktualisiert: 25.10.2020 um 14:52 Uhr
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Marcel Salathé forscht an der ETH Lausanne.
Foto: Lundi 13
Reza Rafi

Die Pandemie katapultierte Marcel Salathé (44) in die Liga der Köpfe des Jahres. Seit Beginn der Krise nimmt der Epidemiologe, der an der EPFL in Lausanne forscht, lautstark an der Debatte teil. Pointierte Kritik an Bund und Kantonen gehört ebenso zu seinem Beitrag wie Lagebeurteilungen und Prognosen. Sogar von einem SBB-Plakat guckte er im Sommer, um fürs Maskentragen zu werben. Einer seiner liebsten Kanäle ist aber Twitter.

Twitter als Teil der Forschung

Der Kurznachrichtendienst war schon vor Corona ein wichtiger Bestandteil von Salathés wissenschaftlichem Wirken. Aufsehen erregte er einst, indem er die Ausbreitung von Krankheiten anhand von Twitter-Daten ermittelte. «Marcel gehörte zu den ersten, die Twitter als Informationsquelle für Gesundheitsfragen betrachteten», lobt ihn ein Kollege auf der Seite des Nationalfonds. 2011 schwärmte Salathé im «New Scientist» von Twitter als «unglaublich reiche Datenquelle, wenn es um das Herausfiltern der Einstellung der Menschen geht».

Umso mehr staunt der Zeit­genosse, der auf Salathés deutschsprachigem Twitter-Account in die Vergangenheit scrollen und nach seinen früheren Meinnungsbeiträgen suchen will. Der älteste Eintrag ist vom 9. Oktober. Dann öffnet sich die grosse Leere.

Schlecht gealterte Aussagen

Es stellen sich Fragen – sind dem Professor manche Beiträge von früher unangenehm? Steht er nicht zu seinen alten Aussagen?

Gewiss gibt es Äusserungen ­Salathés, die schlecht gealtert sind – wie freilich bei jedem anderen Forscher, Politiker oder Journalisten. «Es sieht gerade wirklich, wirklich gut aus», resümiert er zum Beispiel am 26. September gegenüber den Tamedia-Zeitungen zur Corona-Situation. Der Widerspruch des Interviewers beeindruckt ihn nicht.

Im Frühling tröstete er die Na­tion mit folgenden Worten: «Das Licht am Ende des Tunnels ist sichtbar.»

Swiss-Covid-App entscheidend mit vorangetrieben

Andererseits – auch dies soll hier fairerweise erwähnt sein – hatte er als einer der Ersten vor einem Engpass bei den Tests sowie vor Superspreader-Events gewarnt. Und die zentrale Rolle des Tracing betont. Im März machte Salathé wiederum mit einem Tweet Furore: «In diesen Wochen ist mein Vertrauen in die Politik erschüttert.» Gleichzeitig hat er die Swiss-Covid-App entscheidend mit vorangetrieben.

Dass Salathé gezielt einzelne Tweets löscht, ist nicht der Fall, wie eine Anfrage von SonntagsBlick ergibt. «Mein Twitter ist so eingestellt, dass Tweets, auch auf meinem englischen Hauptkonto, nach 14 Tagen automatisch gelöscht werden. Damit habe ich schon weit vor Corona begonnen», teilt er mit.

Und weshalb das? «Was ich an Twitter attraktiv finde, ist die momentane Diskussion. Die permanente Aufzeichnung hingegen gefällt mir nicht», sagt er.

Marcel Salathé, ganz postmodern: Ein Mann im Hier und Jetzt.

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