Kein Tarif-Kompromiss in Sicht
Ärzte fordern Tarmed-Komplett-Revision!

Die Diskussionen um die Revision des veralteten TARMED-Ärztetarifs befinden sich in einer Sackgasse. Der geplante staatliche Eingriff wird in der Vernehmlassung weitherum kritisiert - auch von der Ärzteverbindung FMH. Diese fordert eine «sachgerechte Gesamtrevision» und entwirft derzeit einen eigenen Lösungsvorschlag.
Publiziert: 20.06.2017 um 11:15 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 02:45 Uhr
Juerg Schlup, Präsident der FMH, links, und Urs Stoffel, Mitglied des FMH-Zentralvorstandes orientieren in Bern, weshalb sie finden, der Bundesrat gefährdet die ambulante Medizin.
Foto: ANTHONY ANEX

Der geplante Tarifeingriff ziele auf eine einseitige Kostensenkung bei der ambulanten Medizin ab, kritisiert die FMH. Setze der Bundesrat seinen Vorschlag ohne nachhaltige Anpassungen um, seien viele ambulante Leistungen künftig nicht mehr kostendeckend zu erbringen. Dies werde wiederum eine Verlagerung der Leistungen in den stationären Bereich zur Folge haben - und damit einen ungewollten Kostenschub.

Punktuelle Eingriffe in die Tarifstruktur, wie sie der Bundesrat vorschlägt, lehnt die FMH ab. Eine von allen Ärzteorganisationen und Tarifpartnern entwickelte TARMED-Revision sei der einzig richtige Weg, ist sie überzeugt. An einer solchen arbeitet sie seit Beginn des Jahres. Das Projekt trägt den Namen Tarco. Ziel ist, Mitte 2018 dem Bundesrat einen «partnerschaftlicher und gemeinsamer Tarifvertrag» zur Genehmigung vorzulegen.

Zeche zahlen Spezialärzte

Dass der TARMED angepasst werden muss, ist seit Jahren klar. Der Tarif ist längst nicht mehr sachgerecht, einige Leistungen werden zu hoch, andere zu tief vergütet. Sieben Jahre lang haben Ärzte, Spitäler und Krankenkassen ergebnislos über eine Revision verhandelt.

Ende März leitete der Bundesrat einen Eingriff in die TARMED-Struktur ein. Gleichzeitig fordern einige Kantone und der Bund, dass die Spitäler und Kliniken ihre Behandlungen so weit wie möglich ambulant statt stationär durchführen.

Rund 700 Millionen Franken sollen bei den ambulant erbrachten Leistungen gespart werden, wie Gesundheitsminister Alain Berset bei der Präsentation erklärte. Bei einem Volumen von rund 10 Milliarden Franken sind das erhebliche Einsparungen. Die Zeche zahlen die Spezialärzte, die Haus- und Kinderärzte würden sogar etwas mehr Geld bekommen als heute.

Keine nachhaltige Lösung

In der Vernehmlassung, die noch bis Ende Juni dauert, fallen diese Vorschläge bei verschiedenen Akteuren der Gesundheitsbranche durch. Der Spitalverband H+ kritisiert etwa, dass das jährliche Defizit im ambulanten Bereich vergrössert würde - von heute 600 Millionen Franken auf bis zu einer Milliarde Franken.

«Wir fordern, dass die Spitäler und Kliniken die ambulanten Leistungen kostendeckend erbringen können», sagte die Waadtländer FDP-Nationalrätin Isabelle Moret, welche den Verband H+ präsidiert. Das sei mit dem heutigen TARMED in vielen Bereichen unmöglich und werde durch den Tarifeingriff weiter erschwert.

Einseitige Eingriffe hälfen nicht, die Tarifpartnerschaft zwischen Versicherern, Kantonen, Ärzten und Spitälern wiederzubeleben. Die seit über zehn Jahre dauernde Blockadesituation verunmöglichte eine Gesamtrevision des TARMED durch alle Tarifpartner.

Telefonische Beratung gefährdet

Die Psychiater warnen vor den Folgen für psychisch Kranke, sollte der vom Bundesrat angepasste TARMED-Ärztetarif umgesetzt werden. Die Einschränkung der Arbeit mit dem Umfeld der Patienten und der Telefonbehandlung könnte in Krisen Leben gefährden, kritisiert die Verbindung der psychiatrisch-psychotherapeutisch tätigen Ärztinnen und Ärzte der Schweiz (FMPP).

Der Verband stört sich daran, dass bei den Psychiatern in Zukunft nur noch dreissig Minuten pro Patient und pro Monat anstatt bisher sechzig Minuten vergütet wird.

Auch Alzheimer Schweiz fordert eine Korrektur der Revisionsvorlage. Die darin vorgesehenen Kürzungen stellten die zukünftigen Versorgungsqualität demenzkranker Menschen infrage und sei nicht mit den Zielen der Nationalen Demenzstrategie vereinbar, schreibt die Organisation.

Kantone setzen bei Operationen das Messer an

Die Kantone wollen geplante Spitalaufenthalte nur noch vergüten, wenn medizinische Gründe gegen einen ambulanten Eingriff sprechen. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) empfiehlt ihren Mitgliedern, den Beispielen der Kantone Luzern und Zürich zu folgen.

In beiden Kantonen sollen unnötige Hospitalisationen vermieden werden, indem die Kantone eine Liste mit Eingriffen festlegen, welche ambulant statt stationär erfolgen sollen. Die Kantone erhoffen sich dadurch jährliche Einsparungen in Millionenhöhe. Die Pläne werden von den Konsumentenschutz-Organisationen unterstützt.

Krankenkassen gespalten

Widerstand kommt dagegen vom Krankenversichererverband santésuisse. Die Verlagerung von der stationären zur ambulanten Versorgung belaste einseitig die Prämienzahler. Der Verband fordert stattdessen ambulante Pauschalen.

Curafutura, der andere Schweizer Krankenversichererverband, ist mit dem bundesrätlichen Vorschlag einverstanden. Er fordert gar die Umsetzung auf Anfang 2018. So könnten die Prämienzahler schon bald von den Neuerungen profitieren: Sie würden um 700 Millionen Franken entlastet, ohne dass die Qualität der Versorgung leide. (SDA/hlm)

So will Tarmed die Kosten endlich senken

Bundesrat Alain Berset (45) tritt resolut auf die Bremse: Mit einer Kürzung der Abgeltungen für die Ärzte will er bei den ständig steigenden Gesundheitskosten jährlich 700 Millionen Franken einsparen. Betroffen von strafferen Tarifen sind die ambulanten Behandlungen. Die Ärzteschaft warnt: Bersets Eingriff wirke sich besonders negativ auf die Behandlungsqualität in der Notfall-, Alters- und Kindermedizin sowie der Psychiatrie aus.

Ärztinnen und Ärzte verrechnen alle Leistungen in der Praxis und im ambulanten Spitalbereich nach dem Tarmed-Tarif. Tarmed ist ein kompliziertes Vertragswerk mit 4000 Taxpunkten zwischen der Ärztegesellschaft FMH und den Krankenversicherern. Weil sich die Partner nicht auf eine längst fällige Aktualisierung einigen konnten, greift jetzt Berset persönlich ein. Bis am 21. Juni schickt er seine Änderungen in die Vernehmlassung. Umstritten sind Abstriche bei den Zeitlimitationen: Ärzte sollen bei den Patientenkontakten weniger Zeit aufschreiben können. Beispiel: Beim Dermatologen wird der Arztbesuch auf 20 Minuten beschränkt. Aufwendige Kindermedizin werde durch die Tarmed-Kürzung ungenügend abgegolten, warnen die Ärzte. Kranke Kinder brauchen mehr Aufmerksamkeit und Zeit – sie haben beim Arzt Ängste, sind störrisch, wollen zuerst getröstet werden. Ins Gespräch müssen auch die Eltern einbezogen werden.

Hingegen können mit Tarmed technische Kosten dank Digitalisierung und Fortschritt tatsächlich eingespart werden. Beispiel: die Opera­tion des grauen Stars. Dank neuer Technologie soll der Tarif von 376 Franken auf 128 Franken gesenkt werden. Magen-Darm-Ärzte verdienen pro Jahr im Schnitt 393'000 Franken, Kinderärzte 187'000 Franken.

Der für das Gesundheitswesen verantwortliche Bundesrat Alain Berset.
PETER KLAUNZER

Bundesrat Alain Berset (45) tritt resolut auf die Bremse: Mit einer Kürzung der Abgeltungen für die Ärzte will er bei den ständig steigenden Gesundheitskosten jährlich 700 Millionen Franken einsparen. Betroffen von strafferen Tarifen sind die ambulanten Behandlungen. Die Ärzteschaft warnt: Bersets Eingriff wirke sich besonders negativ auf die Behandlungsqualität in der Notfall-, Alters- und Kindermedizin sowie der Psychiatrie aus.

Ärztinnen und Ärzte verrechnen alle Leistungen in der Praxis und im ambulanten Spitalbereich nach dem Tarmed-Tarif. Tarmed ist ein kompliziertes Vertragswerk mit 4000 Taxpunkten zwischen der Ärztegesellschaft FMH und den Krankenversicherern. Weil sich die Partner nicht auf eine längst fällige Aktualisierung einigen konnten, greift jetzt Berset persönlich ein. Bis am 21. Juni schickt er seine Änderungen in die Vernehmlassung. Umstritten sind Abstriche bei den Zeitlimitationen: Ärzte sollen bei den Patientenkontakten weniger Zeit aufschreiben können. Beispiel: Beim Dermatologen wird der Arztbesuch auf 20 Minuten beschränkt. Aufwendige Kindermedizin werde durch die Tarmed-Kürzung ungenügend abgegolten, warnen die Ärzte. Kranke Kinder brauchen mehr Aufmerksamkeit und Zeit – sie haben beim Arzt Ängste, sind störrisch, wollen zuerst getröstet werden. Ins Gespräch müssen auch die Eltern einbezogen werden.

Hingegen können mit Tarmed technische Kosten dank Digitalisierung und Fortschritt tatsächlich eingespart werden. Beispiel: die Opera­tion des grauen Stars. Dank neuer Technologie soll der Tarif von 376 Franken auf 128 Franken gesenkt werden. Magen-Darm-Ärzte verdienen pro Jahr im Schnitt 393'000 Franken, Kinderärzte 187'000 Franken.

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