Fünf Jahre dauerte das Martyrium von Alice Büttiker: Sie wurde von ihrem dementen Ehemann beschimpft, gedemütigt, geschlagen. Bis zu 500'000 Seniorinnen und Senioren werden jährlich Opfer von Gewalt, schätzt ein Bericht des Bundes. Das ist jede fünfte Person über 60 Jahren. Trotzdem haben vergangenes Jahr nur 359 Leute bei der Meldestelle des Kompetenzzentrums «Alter ohne Gewalt» Hilfe geholt.
«Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass ältere Menschen kaum von häuslicher Gewalt betroffen sind», sagt Ruth Mettler (60), Geschäftsleiterin von «Alter ohne Gewalt». Nur: Dieser Schein ist weit von der Realität entfernt. Mit zunehmenden körperlichen und geistigen Einschränkungen steigt nämlich das Missbrauchsrisiko. Kommt hinzu: Scham, Angst oder Unklarheit über die eigene Situation halten viele davon ab, Alarm zu schlagen.
Abhängigkeit als Risikofaktor
Besonders gefährdet sind Menschen, die zu Hause wohnen und von Pflege abhängig sind, wie Mettler sagt. Die Angehörigen sind oft überfordert: «Aus Erschöpfung werden sie ungerecht gegenüber der gepflegten Person. Sie fangen etwa an, verbal zu attackieren, Sachen zu verbieten oder die Person einzusperren».
Auch in Altersheimen kann die Überforderung des Personals in Misshandlung münden. Vor einiger Zeit wurde bekannt, dass Altersheime sedierende Medikamente verabreichen, um die Bewohner ruhigzustellen.
17 Prozent der Gewalt ist finanziell
Laut dem Kompetenzzentrum «Alter ohne Gewalt» sind 40 Prozent der Übergriffe psychischer und 30 Prozent physischer Natur. Auch finanzieller Missbrauch kommt vor. Er macht 17 Prozent der Fälle aus. Es könne passieren, dass Kinder auf Kosten der betagten Eltern leben oder sogar Geld erschleichen, so Mettler.
Finanzielle Übergriffe gehen auch aufs Konto von Betrügern. Einsame Menschen seien dafür besonders anfällig. Beim sogenannten «Love-Scam» wird Verliebtheit vorgespielt, mit dem Ziel, sich an einsamen Menschen zu bereichern.
Gewalt erkennen
Wieso schlagen viele Senioren und Seniorinnen in solchen Situationen nicht Alarm? Ältere Menschen sind sich oft gar nicht bewusst, dass die eigene Situation nicht in Ordnung ist.
Die Senioren können sich die folgenden Kontrollfragen stellen, um herauszufinden, ob sie sich selbst in einer Gewaltsituation befinden:
- Kontrolliert mich mein Partner oder meine betreuende Person?
- Hatte ich schon mal Angst vor ihr?
- Zwingt mich, meine Partnerin Entscheidungen zu treffen, die ich gar nicht will?
- Fühle ich mich erniedrigt oder gedemütigt?
Oft hätten ältere Menschen auch Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, ihr Leben nicht mehr im Griff zu haben, erklärt Mettler. Sie sorgten sich zum Beispiel, dass sich das Problem nur mit einer Trennung oder mit Verlassen des Zuhauses lösen lässt. So erdulden sie die Situation.
Unabhängige Meldestellen sollen Hilfe bieten
Um diese Hürde zu verkleinern, bietet die Unabhängige Beschwerdestelle (UBA), eine nationale Telefonnummer an, an die sich Leute bei Gewaltproblemen wenden können. «Man darf sich anonym melden, um sich zu informieren und die Situation zu besprechen. Alles bleibt vertraulich», versichert Ruth Mettler. Trotzdem seien polizeiliche Schritte in gefährlichen Situationen unumgänglich. Bei einer Meldung an die Behörden wird vorgängig aber gut abgewogen.
Auch Leute, die merken, dass sie in eine Täterrolle hineinschlittern oder Misshandlung beobachten, können sich bei der Telefonnummer melden. Dabei können sie in einem ersten Schritt auch anonym bleiben. So ist es möglich, der Gewalt zu begegnen. «Es gibt Hilfsangebote, aber melden müssen sie sich selbst», resümiert Mettler.