Hinter den Kulissen des Bundesrats – Ex-Bundeskanzler Thurnherr redet Klartext
«Schaumschläger» und «dümmliche Sprüche»

Walter Thurnherr kennt Bundesbern wie kaum ein zweiter. In seinem neuen Buch benennt der ehemalige Bundeskanzler Kommunikationsfehler in der Pandemie, er legt magistrale Eitelkeiten offen und kritisiert die Medien.
Publiziert: 26.10.2025 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 26.10.2025 um 08:36 Uhr
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Ein schicksalhaftes Gremium: Alain Berset (2. v. l.) hilft Bundespräsident Ignazio Cassis (M.) über das Boot neben Bundesrätin Simonetta Sommaruga (l.), Bundesrätin Viola Amherd (3. v. l.), Bundesrat Ueli Maurer (3. v. r.), Bundeskanzler Walter Thurnherr (2. v. r.) und Bundesrätin Karin Keller-Sutter (r.) während der Bundesratsreise am Rheinfall 2022.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • Walter Thurnherr beschreibt die Mechanismen der Schweizer Regierung
  • Thurnherr kritisiert Machtveränderung bei Bundespräsidenten und Medienwelt
  • 2025 wird die Bundesverwaltung voraussichtlich 39’075 Vollzeitstellen haben
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Seinen eigenen Job beschreibt er so: «Unbekannte Funktion weitgehend im Hintergrund». Walter Thurnherr (62) war von 2016 bis 2023 Bundeskanzler der Eidgenossenschaft, also Stabschef der Landesregierung. In diesem Amt hat er im innersten Zirkel Bundesberns die Bewältigung grosser Krisen von Covid bis Credit Suisse miterlebt – und zu einem Teil auch mitgestaltet. Jetzt hat er ein Buch mit Potenzial zum Standardwerk verfasst. Titel: «Wie der Bundesrat die Schweiz regiert».

Der studierte Physiker Thurnherr beschreibt begeistert die Mechanismen im machtpolitischen Räderwerk; Junge würden sagen: Thurnherr ist ein Nerd (jedes Kapitel beginnt er mit einer Rechenaufgabe). In seinen Beobachtungen aus dem Innern des kybernetischen Ungetüms der Staatsmacht findet sich aber auch süffige Kritik am Zustand des Systems und seinen Personen.

An Hunderten Bundesratssitzungen dabei

Der Autor wohnte mehreren Hundert Bundesratssitzungen bei und muss unzählige Male auf die Zähne gebissen haben, weil es Anstand und Gesetz gebieten, dass der Bundeskanzler zu sämtlichen Untiefen und Abgründen öffentlich schweigt, die er intern mitbekommt. Zuvor war er Generalsekretär in drei Departementen. Nun schildert Thurnherr im Buch die Entlarvung der einzelnen Charaktere im Gremium während Ausnahmesituationen wie etwa in der Covid-Pandemie: «In einer solchen Krise wird erkennbar, wer im Bundesrat belastbar ist und wer vorher nur so getan hat.»

Auf seinem Posten erlebte Thurnherr hautnah, wie unter Druck «die Masken fallen». Bei grossen Herausforderungen werde rasch ersichtlich, «wer Schaum schlägt und eigene Fehler herunterzuspielen versucht, wer etwas vom Problem versteht und gute Vorschläge macht, wer mit Gummistiefeln medienwirksam durch etwas Hochwasser watet und wer mit den Opfern spricht, auch wenn keine Kamera dabei ist.»

Die unheimliche Veränderung durch das Präsidium

In der Schweiz wird Macht geteilt wie sonst kaum in einem Land. Denn sie verführt und verändert. Was Thurnherr bei Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten feststellen musste. Nach spätestens zehn Monaten im Präsidialjahr würden viele Amtsinhaber ihre «kleinen protokollarischen Vorzüge» zu einem Anspruch erheben. Nach einer gewissen Zeit würde sich eine Selbstwahrnehmung einschleichen, «bei der das ‹Primus inter Pares› vor allem als ‹Primus› verstanden wird». Ein Hauch von Cäsarenwahn im Bundesratszimmer? Häufig jedenfalls sei das Kollegium «nicht unglücklich, dass das Amt der Präsidentschaft nach einem Jahr wieder weitergereicht wird».

Thurnherrs Buch ist eine Liebeserklärung an das politische System der Schweiz, garniert mit einigen Spitzen auch gegen die Administration. So lässt er sich wortreich über schlechte Mitarbeiter von Bundesräten aus, über «Angestellte im Umfeld einer Departementschefin, die sich Beraterin respektive Berater nennen lassen, aber im Wesentlichen nur geschäftig herumstehen, der Chefin die Tasche nachtragen, ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen und ihr jene Komplimente machen, die sie gerne hört».

«Eine Kuh, die irgendwo verkehrt herum im Stall steht»

Besonders suspekt sind ihm Bundesratssprecher, die zuvor Medienschaffende waren und sich sozusagen als Quereinsteiger ohne ganzheitlichen Blick für die Staatsräson dazugesellen. «Die Zahl der Bundesrätinnen und Bundesräte, die ihre Stabsmitarbeitenden ‹von aussen› rekrutieren und von ihnen eine besondere, persönliche Loyalität erwarten, hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen.» Manche persönliche Mitarbeiter der Bundesräte würden «bei Kollegen und Journalistinnen mit kleinen Interna auftrumpfen» und «gerne an der Seite ihres Chefs gehen, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet ist». Der Verfasser entblösst Bundesbern als Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Leidenschaftlich reibt er sich an der neuen Medienwelt. Die Schweizer Öffentlichkeit leidet in seinen Augen unter einem Zwang zur sofortigen Einordnung durch einen Landesvater oder eine Landesmutter. Der Bundesrat müsse heute «blitzartig reagieren, wenn etwas passiert im Land». Immer schneller werde heute eine Stellungnahme verlangt, «sei es ein schwerer Verkehrsunfall, eine Bronzemedaille an den Olympischen Spielen, die Einführung des Gendersterns an einer Fachhochschule oder eine Kuh, die irgendwo verkehrt herum im Stall steht».

Bei den Bundeshausjournalisten genoss er Kultstatus

Thurnherr und die Medien – ein kompliziertes Verhältnis. Bei den Bundeshausjournalisten genoss der mit Wortwitz Gesegnete Kultstatus. Andererseits hadert er mit den Vertretern der vierten Gewalt – und lässt den Leser daran teilhaben. So mokiert er sich über Journalisten, vor allem aus früheren Tagen, die ihre Rolle missverstanden hätten und sich «in erster Linie als einflussreiche Insider und politisch unabhängige Berater einzelner Bundesräte» verstünden.

Zu schaffen macht dem Autor der heutige Journalismus mit höherem Tempo und weniger Ressourcen: Immer mehr würden Berichte erscheinen, die von Kommentaren kaum mehr zu unterscheiden seien. «Statt dass wir mehrspaltige Analysen zu bundesrätlichen Entscheiden in den Zeitungen zu lesen bekommen, bricht täglich eine gewaltige Welle von Informationshäppchen, Werbeunterbrechungen und dümmlichen Sprüchen über uns herein.»

Staatswachstum wird nicht infrage gestellt

Stellenweise erklingt Thurnherr unbewusst als Aushängeschild einer sich aufblähenden, zuweilen abgehoben wirkenden Bundesverwaltung. Der Apparat wächst Jahr für Jahr – 2025 sind es bereits 39’075 Vollzeitstellen, die 40’000er-Marke liegt in Sichtweite. Das Staatswachstum schlägt das Wirtschaftswachstum; der Durchschnittslohn beim Bund übertrifft jenen im Bankensektor. «Natürlich beschäftigt die Verwaltung heute deutlich mehr Mitarbeitende und verwaltet beträchtlich grössere Budgets als vor vierzig Jahren», stellt Thurnherr lapidar fest, als sei dies gottgegeben.

Als einen Haupttreiber nennt er die Digitalisierung. Sie führte «zu einer Unzahl neuer Projekte und zu einem neuen Projektmanagement, zu neuen Institutionen in der Verwaltung, zu einer neuen Archivierung und neuen Kommunikation, zu neuen Verordnungen und zu einer neuen Themenlandschaft». Wer bis anhin meinte, dass New Tech die Arbeitswelt vereinfache, lag in Thurnherrs Augen falsch. Ein kritisches Wort über falsche Anreize zur Schaffung neuer Stellen auf Steuerzahlerkosten sucht man bei Thurnherr vergeblich.

«Verharmlosend» und «nicht kohärent» in der Pandemie

Sorgen bereitet ihm das Zusammenspiel der einzelnen staatlichen Gewalten. So beklagt er das getrübte Verhältnis zwischen Regierung und Volksvertretern: «Es ist lädiert, weil die Aufgabenteilung zwischen Parlament und Bundesrat sich auf den gegenseitigen Respekt abstützt und dieser Respekt abgenommen hat und weiter zu schrumpfen droht.»

Fehler macht indes auch die Landesregierung – Thurnherr erinnert an die Corona-Krise: «Das BAG stellte noch Ende Februar 2020 gegenüber dem Bundesrat verharmlosend fest, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Virus unkontrolliert verbreiten werde. Drei Wochen später waren die Schweizer Städte menschenleer.» Zu Beginn der Covid-19-Pandemie habe das Alain Berset (53) unterstellte Bundesamt für Gesundheit kommuniziert, dass Masken nichts nützen. «Einige Monate später erklärte die Bundespräsidentin (Simonetta Sommaruga): ‹Mit der Maske schützen wir uns selber und unsere Mitmenschen.› Das war nicht kohärent.»

Manches erinnert an Cassis und Amherd

Überhaupt habe das Siebnergremium immer wieder fraglich gewichtet. «Wenn man über Jahre kaum einmal zur EU-Kommission nach Brüssel gereist ist, wird man auch mit selbstbewussten Interviews nicht den Eindruck schaffen können, man habe sich nach Kräften um Verhandlungsfortschritte bemüht.» Die Europapolitik habe schon früh an seltsamen Prioritätensetzungen gelitten: «An mehreren Sitzungen war über die Konzession des Sessellifts auf den Weissenstein verhandelt worden, aber eigentlich nie über die Bedeutung der Osterweiterung der EU.»

Nicht besser stehe es um die Redekunst der Schweizer Spitzenpolitiker. So schreibt er über einen «wortkargen oder etwas schüchternen» Bundesrat, «der genug von den Medienschaffenden hat, die ihn, wie er findet, nur noch kritisieren, und der deshalb keine Interviews mehr geben will». Unweigerlich denkt man an EDA-Vorsteher Ignazio Cassis (64). Folgende Passage wiederum erinnert verdächtig an die Spätphase der ehemaligen VBS-Chefin Viola Amherd (63): «Eine unsichere und stets kurz angebundene Bundesrätin, die ihre Eitelkeit etwas schlechter zu verstecken weiss als ihre Amtskollegen und die nur noch Auftritte zusagt, die sie bis ins letzte Detail kontrollieren kann.»

Didier Burkhalters «kitschige» Rede

Charismatiker hätten es hierzulande sowieso schwierig. «Wer in der Schweiz rhetorisch brilliert oder mit einer flammenden Rede den Saal zum Kochen bringt, macht sich eher verdächtig. Träfes, vielleicht sogar leicht verstocktes, aber bodenständiges Reden wirkt heimeliger.» Er erteilt auch Ratschläge für Bundesratsauftritte: «Emotionen sind nicht schlecht, aber Kitsch kommt nicht gut an», sagt er, und zitiert ein Negativbeispiel: «Die Schweiz und die Welt sind sich nicht fremd. Sie sind wie der See und der Himmel, sie sind wie der Himmel und die Alpen.» Was Thurnherr nobel verschweigt: Diese Sätze sagte 2014 der damalige Bundespräsident Didier Burkhalter (65).

Zur Aussen- und Neutralitätspolitik sagt er: «Da reiten viele mit verdrehtem Kopf, aber mit Absicht, weil sie sich an der Vergangenheit orientieren.» Das ist ziemlich undiplomatisch für einen, «der im Hintergrund wirkt und arbeitet wie ein Ochse», wie Thurnherr es ausdrückt. Das sei entscheidend an diesem Posten. Die Bundeskanzlei müsse «von einer starken, unabhängigen und umsichtigen Persönlichkeit geführt werden». Er nennt als Vorbild den ehemaligen Bundeskanzler Karl Huber. «Heute erinnert sich kaum jemand mehr an ihn. Und auch das gehört dazu.» Gut möglich, dass man sich an Thurnherr noch etwas länger erinnern wird.

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