Sie gehören zum Alltag, aber während der Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel wird ihr Läuten wohlwollender aufgenommen als sonst. Einer, der dem Klang der Kirchenglocken immer aufmerksam lauscht, ist Hans Jürg Gnehm. Der 63-Jährige ist einer der bekanntesten Glockenexperten der Schweiz, der «Glöckner der Nation». Als Glockensachverständiger für Landeskirchen und Denkmalpflege ist er seit Jahrzehnten zur Stelle, wenn eine Glocke restauriert oder ersetzt werden muss.
Zweieinhalb Tonnen Klang
Kurz vor Weihnachten nimmt Gnehm BLICK mit auf den Glockenturm der reformierten Kirche Wülflingen bei Winterthur ZH, wo er hauptamtlich als Diakon arbeitet. Vier wunderbare Glocken hängen hier, mit Engelfiguren in der Krone und Versalien, die grösste zweieinhalb Tonnen schwer. Gegossen 1870 von den Gebrüdern Bodmer aus dem zwei Kilometer entfernten Neftenbach ZH.
Heute gibt es nur noch eine Schweizer Giesserei für Kirchenglocken, in Aarau. Die Zeiten der Glockengiesser-Dynastien sind vorbei. Kein Wunder, eine Glocke hält Jahrhunderte. Eine der ältesten des Landes befindet sich in Wagenhausen TG bei Stein am Rhein. Ihr Datum ist eingegossen: 1291. Sie tut noch heute ihren Dienst.
Kulturgut Kirchenglocke
Das ist ein Teil von Gnehms Faszination für Glocken: «Sie sind Kulturgut, das nicht im Museum zu finden ist, sondern täglich genutzt wird.» Er muss es wissen, hat er doch alle Kirchenglocken in den Kantonen Obwalden, Glarus und Thurgau inventarisiert. Allein der Ostschweizer Kanton hat 688 davon.
Der Glockenvirus hat Gnehm schon als Kind befallen – sein Grossvater war als Sigrist im zürcherischen Tösstal für die Kirchenglocken zuständig. «Kirchenglocken sind verborgen und doch so präsent», erklärt der Enkel. Heute ist er selbst sechsfacher Grossvater und noch immer fasziniert vom Glockenklang, von den tiefen, weichen Tönen, die den Glockenstuhl in Schwingung versetzen und bestenfalls weit tragen.
Der erste Schweizer Experte
Eine einzelne Glocke erschallt immer in Moll, erst das Zusammenspiel ergibt einen Dur-Akkord, erklärt Gnehm. Glockenexperte zu sein ist eine musikalische Angelegenheit. Und eine hochspezialisierte, wie sich zeigt, wenn er von Oktaven redet und von der gotischen Rippe, wie eine typische Glockenform genannt wird, weil ihr Querschnitt der menschlichen Rippe nachempfunden ist. Und wenn er erzählt, dass die meisten Geläute die Melodie eines Kirchenliedes nachempfinden, etwa «Wacht auf, ruft uns die Stimme».
Die Leidenschaft liess Gnehm nicht los: Vor 25 Jahren machte er in Deutschland die Ausbildung zum Glockensachverständigen, als erster Schweizer. Als solcher Experte war er jahrelang auch fürs Bundesamt für Kultur unterwegs. Sein interessantester Auftrag? Gnehm muss nicht lange nachdenken: «Rheinau 2004.» Im zürcherischen Dorf war nach einem Blitzschlag der Turm der Bergkirche abgebrannt. Die Glocken schmolzen im Feuer.
Für das neue Geläut verwendete man drei neue Glocken – und eine 500 Jahre alte, die einen Riss hatte und geschweisst werden musste. Das habe den Klang verbessert, ist Gnehm überzeugt, denn zum Schweissen müsse eine Glocke erwärmt werden, dadurch «erneuere» sich die Bronze. «Das ist wie ein Jungbrunnen», so Gnehm.
Höllisch laut
Gnehm läutet die Wülflinger Glocke heute mal von Hand – eine anstrengende Sache, die schweren Bronzestücke haben eine überraschende Zugkraft. Und sind höllisch laut, wenn der Stahlklöppel auf die Glocke schlägt. «Der Klöppel soll die Glocke nicht schlagen, sondern küssen», berichtigt Gnehm.
Wie die meisten Schweizer Glocken ist auch diese aus Bronze mit einem Kupferanteil von 78 Prozent, der Rest ist Zinn. «Das gibt einen schönen runden Klang und vermeidet Probleme mit Korrosion, wie sie bei Stahlglocken vorkommen.» Stahlglocken gibt es vor allem in Deutschland. «Weil Bronze im Krieg eingeschmolzen wurde, um Munition herzustellen», so Gnehm.
Versteckt klingt besser
Doch Glocke und Klöppel sind nicht allein entscheidend für den Klang. «Auch die Umgebung der Glocke ist wichtig für den Klang», erklärt Gnehm. Ideal sei ein geschlossener Turm, bei dem man die Glocken von aussen nicht sehe. «Das ist optisch weniger interessant, gibt aber eine viel bessere Akustik.» Ebenso wie ein Glockenstuhl aus Holz. «Der unterstützt tiefe Töne und mindert die hohen.»
Die schwerste Schweizer Glocke findet sich im Berner Münster. Zehn Tonnen bringt die 400 Jahre alte Glocke auf die Waage. Beeindruckend, findet auch der Experte. Dass es Leute gibt, die der Glockenklang stört und die sich gegen den Lärm wehren, versteht er nicht: «Wer neben einer Kirche ein Haus baut, der kann sich doch nicht plötzlich über die Glocken beschweren!» Es gebe aber auch Fälle, in denen Glocken unnötig laut und hart tönen.
Höhepunkt Silvesterläuten
Gnehms Lieblingsglocke befindet sich in seinem Wohnort Affeltrangen TG. Denn es ist «seine»: Er selbst hatte die Initiative ergriffen, damit die reformierte Kirche seines Dorfes eine fünfte Glocke bekam. «Jetzt ist der Klang des Zusammenspiels reicher und harmonischer», freut er sich.
Zu Silvester sieht Gnehm einem Höhepunkt des Jahres entgegen. Denn kurz vor Mitternacht wird das alte Jahr aus- und das neue Jahr eingeläutet. 30 Minuten Glockenklang – etwas vom Schönsten, das Gnehm sich vorstellen kann. Und dieses Jahr gar noch schöner: Denn mit 2016 wird auch Gnehms Arbeitsleben als Diakon ausgeläutet: Auf Ende Jahr geht der «Glöckner der Schweiz» in Pension.