BLICK: Ihre Söhne sind schweizerisch-spanische Doppelbürger, Ihr Mann ist Katalane. Auf welcher Seite steht Ihre Familie bei der Schicksalsfrage nach der katalanischen Unabhängigkeit?
Tiana Angelina Moser: Die Meinungen sind vielfältig. Viele Menschen in Katalonien fühlen sich sowohl als Katalanen, wie auch als Spanier und Europäer. Sie sind unideologisch. Ich habe Verständnis für die Katalanen. Sie möchten mehr Kompetenzen und eine Anerkennung ihrer Kultur und Sprache. Man vergisst zu oft, dass Katalonien eine eigenständige Vergangenheit hat. Für die
Zuspitzung des Konfliktes und die Eskalation trägt aber die katalanische Seite auch ihre Verantwortung.
Regierungschef Mariano Rajoy will sich keinen Millimeter bewegen.
Diese Verweigerungshaltung ist ein Grund, warum die Autonomiebewegung immer stärker geworden ist. Die Stimmung war schon 2003, als ich in Barcelona studierte, aufgeladen. Die mangelnden Bereitschaft Madrids, endlich mit den Katalanen an einen Tisch zu sitzen und Lösungen zu suchen – und die Ideologisierung der katalanischen Seite – hat die Stimmung so explosiv gemacht.
Welche Gründe gibt es sonst noch?
In Spanien gibt es eine asymmetische Kompetenzverteilung. Die Basken verfügen beispielsweise über viel mehr Kompetenzen als die Katalanen. Das wäre, wie wenn Zürich Dinge selbst entscheiden könnte, Bern aber nicht. Der Ursprung liegt am Übergang von der Diktatur in die Demokratie: Damals war es am wichtigsten, dass der Übergang friedlich verlief. Das war damals ein Erfolg. Aber die Katalanen waren unzufrieden mit ihrer Situation.
2006 billigte das nationale Parlament den Katalanen mehr Kompetenzen zu.
Der Partido Popular, die Partei von Rajoy, ging damit aber ans Verfassungsgericht, und dieses machte die Zugeständnisse rückgängig. Seither ist die Frustration der Katalanen noch grösser geworden. Regierungschef Mariano Rajoy hat die Situation bewusst zugespitzt, indem er überhaupt keine Bereitschaft zeigt, über die Kompetenzverteilung zu sprechen. Diese Haltung führt in einer Demokratie in eine Sackgasse. Dieses so konservative Auftreten der Zentralregierung hat sogar etwas Apolitisches. Rajoy versteckt sich hinter dem Gesetz und der Verfassung, dabei ist es die Rolle der Politik, diese immer wieder zu hinterfragen und neu zu definieren.
Am Sonntag gingen in Barcelona gegen eine halbe Million Menschen gegen die Unabhängigkeit auf die Strasse. Wie gespalten ist das Land?
Die Situation ist sehr besorgniserregend. Zudem beobachte ich, wie Regierungschef Rajoy nun versucht, diese Anti-Unabhängigkeitsdemonstrationen zu instrumentalisieren. Er versucht darzustellen, dass diese Menschen auf seiner Linie seien. Dabei war das keine Parteidemo, sondern primär Menschen aus der Zivilgesellschaft, die zur Vernunft aufriefen. Parlem – reden wir endlich!
Am Dienstag tagt das Katalanische Parlament. Was erwarten Sie?
Regionalpräsident Carles Puigdemont wird wohl kaum auf die Erklärung der Unabhängigkeit verzichten. Denkbar ist eine zeitverschobene Unabhängigkeitserklärung. Das gäbe dem Dialog eine Chance. Der Druck auf Puigdemont ist noch grösser geworden. Vor allem auch, weil Firmen aus Katalonien abziehen.
Letzte Woche schockierten Bilder der Gewalt, als die Guardia Civil Menschen daran hindern wollte, für oder gegen die Unabhängigkeit zu stimmen. Es gab 900 Verletzte – und das mitten in Europa.
Mit dieser Gewalt der Guardia Civil hätte ich niemals gerechnet. Die Bilder haben mich zutiefst erschüttert und schockiert. Das waren keine Einzelbilder, sondern die Realität. Darum fürchte ich auch das Verhalten der Zentralregierung, wenn es tatsächlich zur Unabhängigkeit kommen würde. Eine weitere Eskalation wäre fatal, nicht nur für Spanien sondern für ganz Europa.
König Felipe schwört Spanien auf die Einheit ein. Aus Schweizer Sicht ist es sehr ungewöhnlich, dass der König de facto das Staatsoberhaupt ist. Wie viel Macht hat sein Wort?
Der König hat mich enttäuscht. Er hätte eine deeskalierende Rolle übernehmen können, sein Wort hätte Gewicht gehabt. Aber er hat weder die Gewalt verurteilt oder sonst irgendwie die Hand ausgestreckt und eine vermittelnde Rolle eingenommen. Dieses Verhalten hat die Situation zusätzlich zugespitzt. Aber mit einer Position der Härte gibt es keine Lösung.
Auch die Schweiz besteht aus vielen Minderheiten. Wieso sind die Katalanen so viel separatistischer als beispielsweise die Tessiner?
Unser föderalistisches System ist grundlegend anders. Es ist schwierig zu vergleichen. Sicherlich sind wir in der Schweiz ständig im Dialog zwischen den Gemeinden, den Kantonen und dem Bund. Und dies seit Jahrhunderten. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen. Die aktuellen Diskussionen um den Finanzausgleich sind ein gutes Beispiel.
Soll die Schweizer Diplomatie ihre guten Dienste anbieten? FDP-Ständerat Damien Müller fordert es. Sie könnten in der Aussenpolitischen einen Antrag dafür stellen.Wir können uns nur anbieten. Ich würde es sehr begrüssen, wenn die Schweiz als Vermittlerin auftreten würde. Aber dazu müssen beide Parteien bereit sein. Und bisher haben nur die Katalanen die Schweiz als neutrale Vermittlerin aufs Parkett gebracht. Mariano Rajoy hat sich öffentlich negativ gegenüber Vermittlungen geäussert.