Familiennachzug erschwert – «ein bedauerliches Armutszeugnis»
Schweizer sollen gegenüber EU-Bürgern benachteiligt bleiben

Seit Jahren diskutiert das Parlament darüber, wie die Diskriminierung von Schweizern beim Familiennachzug aus der Welt geschafft werden könnte. Doch der Ständerat wehrt sich gegen eine Lösung. «Ein Armutszeugnis», kritisiert Migrationsrechtler Marc Spescha.
Publiziert: 10.09.2024 um 18:06 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Familiennachzug: EU-Bürger haben mehr Rechte als Schweizer
  • Ständerat lehnt Gesetzesänderung ab
  • Migrationsrechts-Experte kritisiert den Entscheid
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Schweizer Pass? Pech gehabt. Beim Familiennachzug haben EU-Bürger mehr Rechte als Schweizerinnen und Schweizer.
Foto: Keystone
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Lea HartmannRedaktorin Politik

Ausgerechnet die SVP verteidigt ein Gesetz, das Schweizerinnen und Schweizer gegenüber EU-Bürgern benachteiligt. Die Diskussion des Ständerats sei «aussergewöhnlich», meinte SP-Ständerat Daniel Jositsch (59) am Dienstag.

Womit er definitiv recht hat. Auf der Traktandenliste des Ständerats stand ein Problem, von dem viele Schweizer nichts wissen, das aber äusserst bemerkenswert ist: Es gibt einen Bereich, in dem Schweizer Bürgerinnen und Bürger in ihrem eigenen Land weniger Rechte haben als Personen aus der EU.

Konkret geht es um den Familiennachzug. Will eine Deutsche, die in der Schweiz lebt, ihre brasilianische Mutter zu sich holen, ist das relativ problemlos möglich. Hat die Frau hingegen einen Schweizer Pass, geht das nicht. Der Grund ist das Freizügigkeitsabkommen mit der EU, das EU-Bürgern in der Schweiz beim Familiennachzug mehr Rechte einräumt als Schweizern.

Der Auslöser: eine Blick-Recherche

Der Nationalrat will diese Inländerdiskriminierung abschaffen. Auch der Bundesrat und die Mehrheit der Kantone sprachen sich dafür aus. Den Stein ins Rollen gebracht hatte 2019 ein Blick-Artikel über eine Schweizerin, die ihre kranke Mutter aus Georgien nicht in die Schweiz holen durfte.

Lange sah es so aus, als ob das Parlament handelt und auch Schweizer bald ihre Angehörigen unter bestimmten Voraussetzungen nachziehen dürfen. Doch der Ständerat sträubt sich nun dagegen. Mit 27 zu 14 Stimmen hat er die vorgeschlagene Gesetzesänderung am Dienstag zurück an den Absender geschickt.

SVP fürchtet mehr Migranten

Die St. Galler SVP-Ständerätin Esther Friedli (47) argumentierte, dass es unsicher sei, wie viele Personen durch die Änderung zusätzlich in die Schweiz einwanderten. Die Bürgerlichen fürchten, dass es viele sein werden – auch wenn das Bundesamt für Justiz von einer «vernachlässigbaren Anzahl» ausgeht. Die Haltung der Gegner: Lieber werden Schweizer benachteiligt, als dass die Zuwanderung möglicherweise zunimmt. 

Das Geschäft geht jetzt noch einmal in den Nationalrat, bevor sich der Ständerat ein zweites Mal damit befasst. Sagt er ein zweites Mal Nein, ist die Gesetzesänderung – nach jahrelanger Arbeit des Parlaments – vom Tisch. Und es scheint unwahrscheinlich, dass es sich die kleine Kammer in dieser Zusammensetzung noch einmal anders überlegt.

Entscheid für Migrationsexperten «unverständlich»

Marc Spescha (67), emeritierter Professor für Migrationsrecht der Uni Freiburg und Anwalt spezialisiert auf Migrationsrecht, zeigt sich erschüttert. «Es ist für mich unverständlich, dass Volksvertreterinnen und Volksvertreter sich weigern, die Diskriminierung eigener Landsleute zu beseitigen», sagt er. Spescha wirft dem Ständerat vor, die Verfassung gleich in mehrerer Hinsicht missachtet zu haben. Er erinnert an das Diskriminierungsverbot, das Rechtsgleichheitsgebot und den Schutz des Familienlebens. «Für den Rechtsstaat Schweiz ist das ein bedauerliches Armutszeugnis.»

Spescha sagt, er habe schon Hunderte Schweizerinnen und Schweizer beraten, die von der Inländerdiskriminierung betroffen seien. Einige von ihnen seien dann in die EU gezogen, um ihre Eltern oder Kinder nachziehen zu können. «Ich habe vielen Hoffnungen gemacht, dass sich das Gesetz in der Schweiz bald ändern könnte.» Doch diese Hoffnung hat sich für ihn inzwischen zerschlagen.


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