Das Büro von ETH-Präsident Joël Mesot ist gross. Sehr gross sogar. Die aufwendig verarbeiteten Holzböden und Decken erinnern an die Gründerzeit des Bundesstaats, in der die Eidgenössische Technische Hochschule entstand. Im Gespräch allerdings geht es vor allem um die Zukunft.
Herr Mesot, Sie sind seit einem Jahr im Amt. Haben Sie sich je gewünscht, wieder Forscher zu sein?
Joël Mesot: Nein, ich bedaure den Entscheid keine Sekunde. Ich habe mit fantastischen Menschen zu tun.
Sie haben Ihr Amt übernommen, als die ETH mit dem grössten Skandal ihrer Geschichte konfrontiert war. Eine Professorin mobbte während Jahren Doktorierende. War das ein Einzelfall oder Teil einer verkrusteten Struktur?
Es sind Einzelfälle. Daraus haben wir gelernt – zum Beispiel, dass wir unsere Professoren in Führungsfragen besser begleiten müssen. In Forschung und Lehre sind sie absolute Weltklasse. Beim Thema Leadership gibt es zuweilen Entwicklungspotenzial.
Mit anderen Worten: Ihre Top-Forscher führen schlecht.
Das kann man nicht so pauschal sagen. Erfolgreiche Professorinnen und Professoren bauen ihre Gruppen oft in kurzer Zeit aus, viele von ihnen sind aber nicht genügend auf ihre Führungsaufgabe vorbereitet. Das soll sich nun ändern – und zwar systematisch.
Aber wollen die Professoren überhaupt in Führungskurse sitzen oder sagen die nicht: Das brauche ich nicht?
Klar, Professoren können grundsätzlich alles (lacht). Aber ernsthaft: Es ist meine Aufgabe, Professoren zu erklären, dass es nicht um eine Bestrafung, sondern um eine Unterstützung geht. Die Akzeptanz ist hoch.
Die ETH hat die Professorin mittlerweile entlassen. Es war die erste Entlassung in der 164-jährigen Geschichte. Wie kann das sein?
Die ETH hat sich immer wieder mal von Professoren getrennt. Der Unterschied ist, dass man danach Stillschweigen vereinbart hat.
An der ETH unterrichten 500 Professoren, alles hochintelligente Leute. Lassen sich die vom Präsidenten überhaupt etwas sagen?
Tatsächlich sind alle sehr unabhängig. Genau deshalb sind sie erfolgreich. Ein Wissenschaftler lebt von der Kraft des besseren Arguments. Deshalb gibt es manchmal harte Diskussionen, bevor Entscheide gefällt werden.
Sie können nicht einfach befehlen?
Nein, und damit habe ich auch keine Mühe. Vielleicht wurden Erwartungen in der Vergangenheit zu wenig erklärt. Ich jedenfalls habe interessante Dialoge mit Professorinnen, Professoren, Departementsvorstehern, Studierenden. Da vergleiche ich die ETH immer mit der Schweiz: Beide funktionieren partizipativ und demokratisch, und das macht sie stark.
Die ETH ist eine der besten Hochschulen der Welt. Was ist hier besser als anderswo?
Wir sind gut, weil wir international rekrutieren. So holen wir uns auf verschiedenen Gebieten die besten Kompetenzen – für die Schweiz.
Und die besten Talente kommen auch tatsächlich?
Ja, wir haben wenig Absagen. Top-Forschende ziehen wiederum Top-Forschende an. Unsere Infrastruktur ist ebenso ein Pluspunkt wie unsere Tradition, eng mit der Industrie zusammenzuarbeiten. Die ETH wurde einst gegründet, um die Schweizer Industrie zu modernisieren. Das ist noch immer eine unserer Stärken.
Was sagen Sie zum Vorwurf, die ETH sei zu stark mit der Wirtschaft verbandelt?
Der Vorwurf ist falsch. Die Freiheit der Forschung ist immer gewährleistet, und auch unsere Professoren wählen wir komplett unabhängig aus. Dass wir jedoch eng mit der Industrie zusammenarbeiten, ist wichtig für die Schweiz und ein Wettbewerbsvorteil. Schliesslich ist der Standortwettbewerb enorm.
In Zürich wächst mit Google und anderen Tech-Unternehmen eine neue Industrie heran. Google zahlt angeblich Jahreslöhne von durchschnittlich 250'000 Franken. So saugen sie alle Talente weg.
Auch wenn es den Kampf um Talente gibt: Es ist sehr positiv, dass Google in Zürich ist. Auch Google hat kein Interesse daran, den Personalmarkt auszutrocknen. Ihre Präsenz aber zeigt, wie gut sich die Schweiz entwickelt. Die ETH ist auch im Bereich Informatik eine der besten Universitäten der Welt.
Sie bilden Informatiker und Ingenieure aus – also genau das, wovon es viel zu wenige gibt. Was tun Sie, damit mehr Junge diese Fächer wählen?
Wir gehen seit Jahren in die Schulen und rühren die Werbetrommel. Ein wichtiger Schritt ist das Informatik-Obligatorium an Schweizer Gymnasien. Das erhöht die Chance, dass jemand später Informatik studieren will. Die ETH alleine wird aber nie genügend Leute ausbilden können. Es braucht die ganze Palette von Ausbildungswegen, insbesondere auch die Berufslehre.
Heute kann jeder studieren, was er will. Müsste der Staat das steuern und anordnen: Informatik statt Philosophie?
Nein! Ich bin klar für Wahlfreiheit.
Bei der Pisa-Studie schneiden die Schweizer Schüler in Naturwissenschaften nicht berauschend ab. Was sagen Sie dazu?
Was soll ich sagen? Wir müssen uns weiter anstrengen, um das Interesse für MINT-Fächer bei Kindern möglichst früh zu wecken, ohne dabei die Erstsprachen zu vernachlässigen. Mit dem «Wir» schliesse ich uns alle ein: die Eltern, Volksschule und Universitäten. Die ETH versucht, ihren Beitrag zu leisten, u.a. mit einem speziellen Lernzentrum für Naturwissenschaften.
Was tun Sie, damit die ETH top bleibt?
Damit sie an der Spitze bleibt, braucht sie Persönlichkeiten, die engagiert junge Menschen ausbilden und unkonventionelle Wege beschreiten in der Forschung. Wir müssen bereit sein, Risiken einzugehen, langfristig und in grossen Dimensionen denken. Ein Beispiel: ETH-Forschende haben sich zum Ziel gesetzt, ein neues und sicheres Internet-System zu entwickeln, bei dem man genau weiss, wo ein Datenpaket durchgeht.
Damit sie nicht bei der NSA landet?
Oder bei anderen ... Das System erhöht die Sicherheit und Transparenz des Datentransfers auf Netzwerken. Es läuft bereits im Testbetrieb, unter anderem wird es von mehreren Schweizer Banken produktiv genutzt.
Neben den US-Elite-Unis sind die Konkurrenten der ETH immer öfter in China zu finden. Wie gut sind die chinesischen Hochschulen inzwischen?
Ich beobachte die Entwicklung in China schon lange. Da werden seit Jahren Milliarden investiert. Nun kann man entweder abwehren oder kooperieren. Die Schweiz hat sich für den zweiten Weg entschieden: Es gibt ein Freihandelsabkommen, das auch die Zusammenarbeit in der Forschung regelt.
Lange Zeit sagte man: Die Chinesen sind bloss gut im Kopieren.
Das ist nicht mehr so. China wird ständig besser. Das sieht man auch anhand der Anzahl Patente: Da sind sie bereits die Nummer 1. Wenn es um sogenannte Weltklasse-Patente geht, also die besten Patente einer Sparte, ist China aber noch nicht so weit. Die ETH und der ganze ETH-Bereich schneidet hier übrigens punkto Weltklasse-Patenten sehr gut ab.
Weniger gut ist die ETH beim Anteil Professorinnen. Gerade mal 15 Prozent der Professoren sind Frauen. Wieso?
Wir sind eine technische Universität …
Aber auch wenn man die ETH mit ähnlichen Hochschulen vergleicht, hat sie einen der tiefsten Frauenanteile.
Es ist klar, wir haben zu wenig in die Erhöhung des Frauenanteils investiert. Das ändert sich nun. Ein sehr wichtiges Thema, das wir nun angehen, ist «Dual Career».
Geht es da um Job-Sharing?
Nein, es geht darum, dass wir dem Partner oder der Partnerin einer ETH-Professorin oder eines -Professors Unterstützung bieten, in der Schweiz einen Job zu finden. Job-Sharing ist aber auch ein interessanter Punkt. Ich wurde schon von Professoren dazu gefragt.
Sie können sich das vorstellen?
Ich bin offen für solche Themen.
Was ist ein realistischer Wert von Professorinnen?
Ich möchte 30 Prozent als Etappenziel. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Gleichstellung erst bei diesem Anteil nachhaltig wird. Unter den 35 Berufungen seit Anfang Jahr sind elf Frauen, das sind rund 30 Prozent. Aber bis wir diese Quote auf die ganze Professorenschaft bezogen erreichen, ist es noch ein langer Weg.
Vor einigen Wochen veröffentlichte der BLICK ein Memo von Bundesrat Guy Parmelin – in dem er forderte, dass Bundesangestellte inklusive ETH-Personal nicht gegen Regierungsentscheide Position beziehen sollen. Was sagen Sie dazu?
Die ETH war da nicht direkt involviert. Was ich aber sagen kann: Am ETH-Tag hat sich Bundesrat Parmelin kürzlich dazu sehr deutlich geäussert, dass die Forschungsfreiheit für ihn unantastbar sei.
Die bekannteste Fürsprecherin für die Wissenschaft ist derzeit die Schulschwänzerin Greta Thunberg. Was halten Sie von dieser Figur?
Ich finde sie hoch interessant. Jahrelang hat man beklagt, dass die Jungen sich nicht mehr für die Politik interessieren. Nun zeigt sich, dass das nicht stimmt. Auch wenn nicht alles realistisch ist, was auf der Strasse gefordert wird, ist das Engagement zu begrüssen. Wir als ETH müssen Technologien anbieten, die den Klimawandel bekämpfen. Aber Technologie alleine genügt nicht. Es braucht auch Veränderungen in der Gesellschaft und den Willen aller Staaten, am gleichen Strick zu ziehen.
Es gibt auch die Forderung, dass man Klima-Skeptikern keine Plattform mehr bieten soll …
Denkverbote sind keine Lösung. Es braucht eine Debatte mit Fakten und deren Einordnung durch Fachleute. Aber in Zeiten von Fake-News braucht es mehr: Wir müssen die Menschen im kritischen Denken ausbilden. Da gibt es noch viel zu tun.
Sie sind der erste Romand an der Spitze der ETH seit über 100 Jahren. Wie steht es eigentlich um den Zusammenhalt in der Schweiz?
Es ist wie in einer Beziehung. Man muss etwas dafür tun, dass man sich nicht auseinanderlebt. Gemeinsam mit EPFL-Präsident Martin Vetterli haben wir festgestellt, dass der Austausch zwischen den Studierenden aus der Romandie und der Deutschschweiz in den letzten zwanzig Jahren enorm zurückgegangen ist.
Wieso?
Weil die EPFL eine Top-Schule geworden ist. Die Romands müssen nicht mehr unbedingt nach Zürich kommen. Aber als Eidgenössische Technische Hochschulen haben wir eine Verantwortung. Deshalb haben wir einen Masterstudiengang in Cybersecurity lanciert, in dem die Studierenden von ETH und EPFL ein Semester im anderen Landesteil verbringen müssen. Vielleicht ist unter ihnen der nächste ETH-Präsident. Ich hoffe, dass ich als Romand nicht der letzte Mohikaner in dieser Position bleibe.