Sein Buch «Babyjahre» hat Generationen von Jungeltern begleitet. Der Kinderarzt Remo Largo (75) ist in Erziehungsfragen eine Instanz. Mit der Politik in Bundesbern geht er hart ins Gericht.
SonntagsBlick: Herr Largo, das Bundesparlament hat diese Woche 14 Tage Vaterschaftsurlaub beschlossen.
Remo Largo: Ich habe die Debatte verfolgt. Und gestaunt.
Weshalb?
Es ist schon unglaublich, wie viele Politiker das Wort ergreifen, ohne über ein entsprechendes Sachwissen zu verfügen. Da wird munter über die eigenen Kinder geredet, auch viele Kinderlose äussern sich. Man argumentiert aus einer rein subjektiven Perspektive. Dabei geht es um etwas ganz Wichtiges, um unsere Familien und Kinder.
Sie können doch von Volksvertretern keine wissenschaftlichen Standards verlangen!
Aber die Parlamentarier könnten sich bitte schön besser informieren, bevor sie sich zu einem Thema äussern. Als Folge davon wird diese Informationslücke dann von Lobbyisten und Interessengruppen ausgenutzt, die oftmals den Ausgang der Debatte bestimmen.
Jetzt hat man sich immerhin auf zwei Wochen geeinigt. Das ist ein grosser Unterschied zu einem Tag!
Diese zwei Wochen sind nicht mal eine Alibiübung. In den skandinavischen Ländern beträgt die Elternzeit 480 Tage, in Deutschland 14 Monate. Die OECD hat die Schweiz wiederholt gerüffelt: Sie ist im Bereich Kind und Familie ein Entwicklungsland.
Wie viel Papi-Zeit wäre denn aus entwicklungspsychologischer Sicht ideal?
Worum geht es? Der Vater soll mit seinem Kind so viel Zeit verbringen, dass eine tragfähige Bindung entsteht. Sie sind miteinander vertraut, der Vater kann die Bedürfnisse des Kindes befriedigen und das Kind fühlt sich bei ihm wohl. Dafür braucht es viel mehr Zeit als nur 14 Tage. Das haben die Menschen in den skandinavischen Ländern längst begriffen. Die finanziellen Aufwendungen sind ihnen das auch wert.
Andersherum gefragt: Was ist denn das Problem, wenn ein Vater die ersten Lebensmonate des Kindes verpasst?Dass keine tragfähige Bindung zwischen dem Vater und seinem Kind besteht, wird spätestens dann offensichtlich, wenn sich die Eltern trennen und scheiden lassen. Der Vater kann das Kind nicht so umsorgen, dass es sich psychisch und körperlich bei ihm wohlfühlt. Heute wird von den Gerichten auf die Rechte, nicht aber auf die Pflichten des Vaters gepocht. Die wichtigste Pflicht ist: in den Jahren vor der Trennung eine tragfähige Bindung zu seinem Kind einzugehen.
Die Gegner geben zu bedenken, dass für die Elternzeit die Unternehmen bezahlen.
Ich habe gehört, wie SVP-Nationalrätin Nadja Pieren, die selber Krippen betreibt, im Parlament mit dem Argument kam, dass das ja dann die Firmen bezahlen. Was ist das für eine familienfeindliche Argumentation!
Wie meinen Sie das?
Zum einen betrifft es nur die grossen Firmen, nicht die KMU. Was aber weit schlimmer ist: Wehe, es schadet der Wirtschaft! Wenn du die Politiker verstehen willst, folge dem Geld. In den skandinavischen und vielen anderen Ländern geht es um die Lebensqualität der Menschen und insbesondere der Kinder und Familien. Ich warte auf den Tag, wo die Schweizer Frauen endlich aufstehen und sich für Kind und Familie einsetzen. Das haben in Schweden vor Jahrzehnten auch nicht die Männer, sondern die Frauen getan.
Jetzt verschweigen Sie die Kehrseite: dass die Schweden viel höhere Steuersätze haben.
Da sind aber die Gesundheitskosten bereits drin. Wenn man die Krankenkassenprämien in der Schweiz dazu rechnet, sieht die Sache wieder anders aus. Es ist so einfach, die Schweizer mit dem Geldargument an der Nase herumzuführen. Dasselbe gilt übrigens für die extrem teuren Krippen. In der Schweiz muss oftmals fast der ganze Lohn der Mutter für die Krippenkosten aufgewendet werden.
Sie fordern also höhere Kita-Subventionen?
Die Krippen sind kein Aufbewahrungsort, bis die Eltern von der Arbeit nach Hause kommen! Sie sind ein Teil des Bildungssystems und sollten wie die Schule über die Steuern finanziert werden.
Sie beklagen die mangelhafte Sachkompetenz der Politiker. Haben Sie auch für dieses Problem einen Lösungsvorschlag?
Die Politiker können nicht in allen Sachfragen über die entsprechende Kompetenz verfügen. Auch in den Verwaltungen ist dies häufig nicht der Fall. Ich plädiere für die Einsetzung von unabhängigen Expertengremien, die nicht interessengeleitet arbeiten. Etwa in der Bildungs-, Gesundheits- und Klimapolitik.
Und welche Befugnisse sollten solche Gremien haben?
Dass ihre Stellungnahmen von den Politikern nicht nur zur Kenntnis genommen werden, sondern dass sie sich dazu öffentlich äussern müssen. Der öffentliche Diskurs ist für die Glaubwürdigkeit der Politik sehr wichtig.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ja, den Vaterschaftsurlaub: Ist es den Politikern wirklich ein Anliegen, dass die Väter eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung zu ihren Kindern eingehen können? Reicht dazu ein Urlaub von 2, 14 oder 28 Tagen wirklich aus? Falls ja, was seid ihr für Väter?