Letzte Woche stimmte der Deutsche Bundestag für die Einführung der Ehe für alle. Also dafür, dass auch homosexuelle Paare heiraten dürfen. In der Schweiz wurde diese Gesetzesänderung mehrheitlich positiv aufgenommen. Kein einziger Zeitungskommentator warnte vor dem Schritt. Im Gegenteil, man war sich einig, dass jetzt auch die Schweiz vorwärtsmachen soll. Dabei gibt es durchaus Gegner der Homoehe. Aber sie murmeln ihre Opposition in den Bart. Wagt sich einer deutsch und deutlich vor, gerät er prompt in einen Shitstorm. So erging es dem Bündner CVP-Nationalrat Martin Candinas (36) dieser Tage. Candinas ist natürlich nicht allein, wie sich im Parlament kürzlich zeigte. 71 Nationalräte wollten einen Vorstoss der Grünliberalen, der die Ehe für alle auch in der Schweiz fordert, definitiv versenken. Die Gegner der Ehe für alle stammen vor allem aus den Reihen von SVP und CVP. Sie verloren.Und öffentlich äussern wollen sich nur wenige von ihnen. Den streitbaren Sprecher des Bistums Chur, Giuseppe Gracia (49), hat der Zeitgeist jedoch noch nie davon abgehalten, dezidiert seine Meinung zu sagen. Er hält die Ehe für alle für den falschen Weg. Und fordert endlich eine offene Debatte darüber.
Ein offener Brief von Giuseppe Gracia, Sprecher des Bistums Chur
«Nach Deutschland könnte auch die Schweiz die «Ehe für alle» einführen. Das standesamtliche Jawort stünde dann allen offen, die sich ganz doll lieben. Wobei ich mich frage, ob die auf Dauer angelegte Ehe für ein progressives Volk wie das unsere nicht ein Auslaufmodell ist. Wären flexible Patchwork-Modelle nicht besser, Lebensabschnitts-Partnerschaften mit niederschwelliger Kündigungsklausel? Immerhin ist die traditionelle Ehe die Hauptursache aller Scheidungen.
Was den Staat betrifft, so hat er die Ehe bisher nicht deswegen privilegiert, weil Mann und Frau sich ganz doll lieben, sondern weil sie oft für Nachkommenschaft sorgen. Das Heranwachsen künftiger Steuerzahler, Arbeitnehmer und Konsumenten in stabilen Verhältnissen ist für den Staat von Interesse. Dieses Heranwachsen zu fördern, scheint mir nicht unvernünftig. Aber wer bin ich zu urteilen, wenn der Staat nun alle möglichen Formen des Zusammenlebens privilegiert? Gesetze dürfen auch dann verändert werden, wenn dadurch die Regeneration der Gesellschaft keine besondere Förderung mehr erfährt. Der Staat darf auch Selbstmord in Zeitlupe begehen, wenn es demokratisch geschieht. Frei nach Oscar Wilde ist Demokratie schliesslich die Garantie dafür, dass das Volk tatsächlich das bekommt, was es verdient.
Im Sinn der Freiheit scheint es mir aber wichtig, dass der Staat vor lauter Tatendrang nicht übergriffig wird. Dass er traditionelle Glaubensgemeinschaften wie etwa die katholische Kirche oder das orthodoxe Judentum in Ruhe lässt. Dass er also das religiöse Verständnis von Ehe nicht ins Visier nimmt, um auch Katholiken oder Juden die eigenen Standards aufzuzwingen.
Bleibt nur die Frage, was der Staat noch gegen die Polygamie vorbringen kann. Wenn es tatsächlich so ist, dass in Zukunft die «Ehe für alle» gilt, dann auch für drei Männer oder einen Mann und drei Frauen. Auch sehr behaarte Männer mit der Befähigung, mehrere Ehefrauen zu pflegen und mit ihnen diverse Kinder zu zeugen, dürfen nicht länger diskriminiert werden. Und es darf ihnen, sollte die eine oder andere Gemahlin noch im Ausland weilen, der Familiennachzug nicht verwehrt werden. Da können wir nur hoffen, dass sich alle diese neuen Familien gut entwickeln. Dass sie sich gut integrieren und dem Staat mehr Einkünfte als Ausgaben bescheren. Und sollte das Ganze eines Tages doch aus dem Ruder laufen, können wir immer noch eine Initiative lancieren mit dem Ziel, die staatliche Ehe ganz abzuschaffen. «Ehe für niemanden». Immerhin wäre die Privatisierung aller Formen des Zusammenlebens ebenfalls gerecht, ja in Zeiten des Individualismus sogar noch moderner.»
Giuseppe Gracia (49) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur.