Durch die fein gemusterten Vorhänge in der Stube von Betül Yilmaz' (30) Mutter sieht die wohl hässlichste Strasse der Schweiz gar nicht mehr so hässlich aus. Nur gedämpft dringt der Motorenlärm in das Zimmer in der ersten Etage des vierstöckigen Wohnblocks in Zürich Wipkingen. Weisses Sofa, weisses TV-Möbel, für die Gäste Duftwasser mit Rosengeschmack: Der Kontrast zu draussen könnte grösser kaum sein.
Bis zu 56'000 Autos und Lastwagen rauschen jeden Tag an den Fenstern vorbei und verpesten die Luft. Über 2300 pro Stunde – im Schnitt. In der Rushhour sind es mehr als doppelt so viele. Damit gehört die Rosengartenstrasse zu den meistbefahrenen und dreckigsten Strassen der Schweiz.
Seit über 30 Jahren lebt Yilmaz' Familie hier. Die kaufmännische Angestellte ist in der Wohnung, in der sie BLICK empfängt, aufgewachsen. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und Söhnchen Keyan (8 Monate) im Nachbarhaus. Weg von der Rosengartenstrasse? Das kam für die junge Mutter nie in Frage. «Ich wollte immer da bleiben, denn hier ist mein Zuhause», sagt sie.
Lärm, Gestank und Umwege
Wie Yilmaz geht es vielen, die an der Rosengartenstrasse wohnen. Viele Familien in den mehrheitlich ziemlich heruntergekommenen Blöcken am unteren Ende der Strasse kommen aus der Türkei und leben seit mehreren Generationen hier. Die familiären Banden halten sie an der Rosengartenstrasse – und die günstigen Mieten.
Dafür nehmen die Anwohner Lärm, Gestank und Umwege in Kauf. Fussgängerstreifen über die Strasse, die von der Hardbrücke den Hügel hinauf führt, gibt es nicht. Wer die Strassenseite wechseln will, muss bis zu einer von wenigen Brücken oder Unterführungen gehen. Das Primarschulhaus direkt an der Strassenschlucht ist mit einer leistungsstarken Lüftungsanlage ausgestattet, weil es viel zu laut und dreckig wäre, würden die Lehrer zum Lüften die Fenster öffnen. In der Pause spielen die Kinder auf einem durch eine dicke Lärmschutzwand geschützten Platz.
«Das ist doch keine Lebensqualität!»
Martin Lanz (69) steht auf der Nordbrücke gegenüber des Schulhauses und schaut zu, wie Auto an Auto unter ihm vorbeiziehen. «Das ist doch keine Lebensqualität!», sagt der pensionierte Architekt, der wie Yilmaz in Wipkingen aufgewachsen und mit einigen Jahren Unterbruch bis heute in unmittelbarer Nähe der Rosengartenstrasse lebt. Lanz hat viele Bezeichnungen für die vierspurige Strasse, die vor 50 Jahren ursprünglich nur als Provisorium gedacht war. Eine klaffende Wunde sei sie, eine Schneise, ein Schandfleck für das ganze Quartier. «Die, die diesem Mist ausgesetzt sind, haben es verdient, dass man endlich eine saubere Lösung findet!»
Die saubere Lösung liegt für Lanz auf dem Tisch. Am 9. Februar stimmt der Kanton Zürich über einen Tunnel ab, der die Rosengartenstrasse entlasten soll. Oberirdisch soll der Verkehr künftig nur noch auf zwei Spuren geführt werden. Auf dem Platz, der frei wird, soll eine Tramlinie gebaut werden.
Ein Milliarden-Projekt
Rund 1,1 Milliarden Franken kostet das Mega-Projekt, rechnet der Kanton. Eine riesige Summe, von der rund ein Drittel der Bund übernehmen soll. Das links-grüne Gegenkomitee spricht vom «Rosengarten-Unsinn» und prangert das Projekt in Zeiten der grünen Wende als aus der Zeit gefallen an. Dass die Stadt das Versprechen hält, den Verkehr auf dem Niveau von heute zu deckeln, glaubt im linken Lager niemand.
Doch nicht nur Grüne, SP, GLP und Alternative Liste wehren sich. Auch unter den Bürgerlichen regt sich Widerstand. So sagt die Stadtzürcher CVP zwar Ja, die Kantonalpartei aber empfiehlt ein Nein. Bei der EVP ist es gerade umgekehrt. Die BDP sagte im Parlament Nein, die Mitglieder aber sprechen sich für ein Ja aus. Selbst unter den SVP-Wählern ist der Tunnel umstritten.
8 Jahre lang Bauarbeiten
Auch Betül Yilmaz ist skeptisch. Sie fürchtet, dass der Tunnel nicht zu weniger, sondern zu mehr Lärm führt – zumindest mittelfristig. Ungefähr acht Jahre sollen die Bauarbeiten mitten im Wohnquartier dauern. «Und das geplante Tram ist viel lauter als der Bus, der heute die Strasse entlangfährt», gibt Yilmaz zu bedenken. Zudem fürchtet sie höhere Mieten, wenn der meiste Verkehr unterirdisch geführt und die Strasse damit attraktiver wird.
So wie Yilmaz denken viele Anwohner. Im linken Nein-Lager spürt man, dass die Abstimmung die Gemüter bewegt wie selten eine Vorlage. «Jeden Tag bekomme ich Mails von Leuten, die sich im Abstimmungskampf engagieren wollen», sagt Simone Brander (41) von der Zürcher SP. Die Gegner versuchen nun mit aller Kraft, den Widerstand auch über die Quartier- und die Stadtgrenzen hinauszutragen. Schliesslich entscheidet nicht bloss die Stadt Zürich, sondern der ganze Kanton.
Genau das wiederum ist es, das Tunnel-Befürworter Lanz Hoffnung macht. Er erinnert sich wehmütig, wie er früher mit Nachbarskindern tschuttete, wo sich heute der Verkehr staut. «Rollte ein Ball auf die Strasse und den Hang hinunter, kam es schon mal vor, dass wir ihm fast bis zum Wipkingerplatz unten an der Limmat hinterherspurten mussten.»
Das ewige Provisorium
Aus Sicht des Ur-Wipkingers wäre es eine «Katastrophe», wenn der Rosengartentunnel am 9. Februar abgelehnt würde. In den vergangenen Jahrzehnten gab es schon zig Vorschläge, das Verkehrsproblem an der Rosengartenstrasse zu lösen oder zumindest zu entschärfen – umgesetzt wurde keiner. Die Pläne waren entweder nicht realisierbar oder scheiterten an politischem Widerstand. «Wenn wir jetzt nicht Ja sagen, wird sich auch die nächsten 20 Jahre nichts ändern», befürchtet Lanz.
Für Anwohnerin Yilmaz ist das allerdings gar keine so schlimme Aussicht. Sie hat sich längst an das Leben an der rauschenden Durchgangsstrasse gewöhnt. Früher als Kind habe sie es zwar genossen, wenn die Rosengartenstrasse alle paar Jahre für eine Nacht gesperrt war. «Doch irgendwie war die Stille komisch.»