Schüsse peitschten, Kampfjets kreisten, Panzer fuhren auf: Am 15. Juli 2016 um 22 Uhr begann eine der blutigsten Nächte der türkischen Geschichte. Lange wusste die Bevölkerung gar nicht, was vorging. Erst gegen Mitternacht war allen klar: Es ist – nicht zum ersten Mal – ein Putsch!
Der Aufstand des Militärs, der 294 Menschen das Leben kostete, dauerte nur ein paar Stunden. Schon am folgenden Morgen gaben die Putschisten auf, zu gross war der Widerstand in der Bevölkerung. Präsident Recep T ayyip Erdogan (63) packte die Gelegenheit: Er begann, sein Land von angeblichen Terroristen zu säubern. Er liess Zehntausende von Türken inhaftieren, noch immer sitzen rund 55’000 im Gefängnis. Auch entliess er 140’000 Staatsbeamte. Wer ihm nicht genehm ist, wird entfernt.
Mehr Asylanträge in der Schweiz
Seit dem Putschversuch herrscht der Ausnahmezustand. Die Stimmung hat sich verschlechtert, viele Türken verlassen ihr Land. Seit dem Aufstand haben gegen 600 Türken einen Asylantrag in der Schweiz gestellt. Das sind klar mehr als bisher: 2014 waren etwas über 300 Gesuche gestellt worden, 2015 waren es 400. Idil Abdulle vom Staatssekretariat für Migration bestätigt BLICK: «Es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der politischen Situation seit dem 15. Juli 2016 und der Anzahl Asylgesuche.»
Nachdem Erdogan im Sog des niedergeschlagenen Aufstands auch noch das umstrittene Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 gewonnen hat, scheint ihm die alleinige Herrschaft so gut wie sicher zu sein. «Erdogan mächtig wie nie» und ähnliche Schlagzeilen zierten die Zeitungen. BLICK hatte die Türken in der Schweiz aufgerufen, mit Nein zu stimmen.
Parteifarbe vergessen
Doch die Opposition gibt es noch. Und sie schläft nicht. Türkei-Experte Christoph Ramm von der Universität Bern zu BLICK: «Kemal Kilicdaroglu, Chef der einzigen verbliebenen grossen Oppositionspartei CHP, hat zweimal gezeigt, wie sich der Protest gegen Erdogan erfolgreich bündeln lässt – einmal während der Nein-Kampagne gegen das Referendum und einmal bei seinem Marsch für Gerechtigkeit.» An diesem Marsch, der 420 Kilometer durch die Türkei führte, nahmen bis zu zwei Millionen Menschen teil.
Die Opposition könnte sogar so stark werden, dass es ihr bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen 2019 gelingt, Erdogan vom Thron zu stossen. Kilicdaroglu (68) weiss, dass er mit seiner sozialdemokratischen CHP alleine nicht weit kommt. Daher hat er bei beiden Aktionen bewusst auf Parteisymbole verzichtet und so auch unzufriedene Konservative, Nationalisten und Kurden angesprochen. Ramm: «Gelingt es der Opposition, einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu finden, hinter der sich alle diese Kräfte versammeln können, gibt es eine Chance, Erdogan bei den kommenden Wahlen zu schlagen.»
Erdogan in der Sackgasse
Wer als Erdogans Gegenkandidat antreten könnte, ist offen. Kilicdaroglu? Ramm ist eher skeptisch: «Es wird sich zeigen, ob Kilicdaroglu, in der Türkei oft als Gandhi verniedlicht, selber das Charisma hat, die Opposition und enttäuschte Erdogan-Anhänger hinter sich zu scharen.» Für Ramm wäre auch eine Persönlichkeit aus dem konservativ-nationalistischen Lager denkbar. «Die Erfolgsaussichten gegen Erdogan hängen nicht zuletzt davon ab, welchen Spielraum die Opposition bei Wahlen überhaupt noch haben wird.»
Der Opposition spielt Erdogans Ideenlosigkeit in die Hände. «Schaut man genauer hin, hat er keine Vision mehr jenseits von nationalistischen Parolen und gigantischen Infrastrukturprojekten. Er bietet keine Lösungen für die realen Probleme der Türkei.» Diese Probleme heissen Inflation und stockende Wirtschaft. Und das ist noch nicht alles: Die Verwicklung in den Syrienkonflikt und das Bündnis mit Katar bergen grosse Risiken in der Region. Ramm: «Erdogan treibt mit seiner aggressiven, mitunter rätselhaften Aussenpolitik die Türkei weiter in die Isolation.»
Die Türkei gedenkt mit mehreren Anlässen des blutigen Putschversuchs. Bereits am Dienstag besuchten Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim einen Friedhof im Istanbuler Stadtteil Edirnekapi. Hier liegen 15 Todesopfer des gescheiterten Putsches begraben. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten ist eine Ansprache Erdogans im Parlament in Ankara, in der Nacht zum Sonntag. Sie soll um genau 2.32 Uhr Ortszeit beginnen – zu dem Zeitpunkt, als Putschisten vor einem Jahr das Parlament bombardierten. In der gleichen Nacht gibt es bis spät sogenannte Demokratiewachen. Gleichzeitig sollen islamische Begräbnisgebete von den Minaretten der rund 90'000 Moscheen im Land zu hören sein – so wie in der Nacht, als sich die Muezzine gegen die Umstürzler stellten. Nicht eingeladen zu Erdogans Ansprache sind die grössten Oppositionsparteien der Türkei, CHP und HDP.
Die Türkei gedenkt mit mehreren Anlässen des blutigen Putschversuchs. Bereits am Dienstag besuchten Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim einen Friedhof im Istanbuler Stadtteil Edirnekapi. Hier liegen 15 Todesopfer des gescheiterten Putsches begraben. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten ist eine Ansprache Erdogans im Parlament in Ankara, in der Nacht zum Sonntag. Sie soll um genau 2.32 Uhr Ortszeit beginnen – zu dem Zeitpunkt, als Putschisten vor einem Jahr das Parlament bombardierten. In der gleichen Nacht gibt es bis spät sogenannte Demokratiewachen. Gleichzeitig sollen islamische Begräbnisgebete von den Minaretten der rund 90'000 Moscheen im Land zu hören sein – so wie in der Nacht, als sich die Muezzine gegen die Umstürzler stellten. Nicht eingeladen zu Erdogans Ansprache sind die grössten Oppositionsparteien der Türkei, CHP und HDP.