Zeitenwende. In den Schweizer Medien tauchte dieses grosse Wort in den letzten zwei Monaten häufiger auf als in den zwei Jahren davor. Putins Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine scheint auch uns eine alte Denkweise von neuem aufzuzwingen. Schlagartig leben wir wieder in einer Ära von Aufrüstung und Abschreckung.
In unserer grossen Meinungsumfrage spricht sich eine Mehrheit – richtigerweise! – für die Lieferung von Schutzwesten an die Ukraine aus. Auch eine engere Zusammenarbeit mit der Nato ist für die meisten kein Tabu. Dahinter steckt die Logik: Offenheit und Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit lassen sich nur bewahren, wenn wir notfalls bereit sind, diese Grundwerte militärisch zu verteidigen. Glaubwürdig wirkt eine solche Ansage indessen erst im Verbund mit anderen.
Russlands Krieg gegen die Ukraine mag viele überrascht haben. Bloss: Über kurz oder lang wäre uns ein solch epochaler Schock ohnehin nicht erspart geblieben. Heute lässt Wladimir Putin Kriegsverbrechen begehen, weiter hinten am Horizont aber präsentiert bereits Xi Jinping das Gewehr. China hat seine Rüstungsausgaben in den letzten zehn Jahren um 60 Prozent erhöht, das Land tritt immer unverhohlener in der Rolle einer globalen Militärmacht auf. Das lässt für die Zukunft wenig Gutes erhoffen.
Ja, wir müssen uns neu sortieren. Eine Entschlossenheit demonstrierende Verteidigungskulisse kann allerdings bloss Teil einer umfassenden Neupositionierung der Schweiz in der Welt sein. Sehr viel wichtiger als alles Militärische ist eine vertiefte politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem übrigen Europa, mithin ein rasches Herunterfahren unserer Abhängigkeit von Russland und China.
Um es in strategischen Begriffen zu sagen: Offenheit und Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind Europas Soft Power. Und diese Macht ist gewaltig – nichts fürchten Putin und Xi mehr. Freilich finden die beiden Diktatoren im Westen bis heute genügend Verbündete, die bereit sind, diese Soft Power aus Bequemlichkeit oder aus Profitstreben leichtfertig auszuhöhlen. China begeht Völkermord an den Uiguren, tritt die Menschenrechte ganz allgemein mit den Füssen und droht seinem Nachbarn Taiwan mit einer Invasion? Schweizer Industrieunternehmen hindert das nicht, ihre gesamte Produktion nach China auszulagern; die Politik unterstützt sie dabei sogar nach Kräften. Aus dieser geschäftsmässigen Schwäche des Westens beziehen Peking wie Moskau einen grossen Teil ihrer Stärke.
Diese Woche spottete Putins Lieblingszeitung «Komsomolskaja Prawda»: Selbstverständlich sei jedes Land frei in seinem Entscheid, den Bezug von russischem Gas einzustellen. Nur wäre es mit Europas schönem Leben dann halt vorbei. In der gleichen Zeitung ätzte ein Kolumnist: «Sie möchten kein Gas? Na dann, Holz hacken. Oder ab nach Afrika.»
Fast die Hälfte aller Energie in der Schweiz wird für Gebäude verbraucht, namentlich für Heizen und Warmwasser. Die politische Verantwortung liegt hier bei den Kantonen. Ende 2014 haben sich die 26 Energiedirektoren im Prinzip darauf verständigt, dass Öl- und Gasheizungen durch umweltfreundlichere Systeme ersetzt werden sollen. Festgehalten wird diese Absicht in den sogenannten MuKEn 2014, den Mustervorschriften für die Kantone im Energiebereich. Doch die MuKEn sind in Wirklichkeit äusserst lasch: Wer einen alten durch einen neuen Öl- oder Gasofen ersetzen will, kann dies im Jahr 2022 problemlos tun. So kommt es, dass in der Schweiz seit 2015 nicht weniger als 90 000 neue Gasheizungen eingebaut wurden.
Wer heute heroisch von «Zeitenwende» sprechen will, darf sich nicht scheuen, auch ein so wenig heroisch klingendes Wort wie MuKEn in den Mund zu nehmen. Die Energievorschriften der Kantone müssen sofort verschärft, Schlupflöcher gestopft werden. Erst wenn sich die Zeitenwende nicht allein im Militäretat bemerkbar macht, sondern ebenso in den Amtsstuben der Energiedirektoren, ist unsere Verteidigungskulisse mehr als bloss Maulheldentum.