Vor Heidi Klums Liebesleben, politischem Alltagslärm und allerlei Influencern sind wir dank der Pandemie ein bisschen verschont geblieben. Stattdessen debattierte die Öffentlichkeit 2020 mit Inbrunst über die Frage aller Fragen: Was ist ein Menschenleben wert?
Im rechten Spektrum hat sich ein Lager versammelt, das die sozialen Kosten staatlicher Corona-Massnahmen dem Verlust an Lebensjahren durch die Seuche gegenüberstellt. Da wird die Selbstbestimmung der Unternehmer, die Eigenverantwortung der Bürger ins Feld geführt. Das Wort Güterabwägung hat plötzlich einen anderen, unangenehmen Beiklang.
Für die Gegenseite gilt die unverhandelbare Gleichwertigkeit jedes Menschenlebens. Die knapp 5000 Kerzen auf dem Bundesplatz versinnbildlichen dieses Denken. Die SP stellt bürgerliche Politiker an den Pranger, denen sie aufgrund ausgesuchter Aussagen vorwirft, den Tod in Kauf zu nehmen.
Ironischerweise war dieses Argumentationsmuster zuletzt bei Abtreibungsgegnern zu beobachten, einem sehr anderen politischen Milieu.
Beim Streit um die Fristenlösung im letzten Jahrhundert war das unteilbare Recht auf Leben das Kernanliegen jener, die den legalen Schwangerschaftsabbruch verhindern wollten. Damals ging es um den Schutz des ungeborenen Kindes, heute um Hochbetagte.
Das Motiv der Selbstbestimmung hingegen, bei dem sich heute Wirtschaftskreise bedienen, war einst die Losung der Feministinnen, die das Abtreibungsverbot bekämpften.
Früher warfen Linke den Rechten Moralismus vor. Heute ist es umgekehrt. 2020 hat alles auf den Kopf gestellt.
Wer über solche Themen redet, kommt nicht um Peter Singer herum. Der in Princeton (USA) lehrende Philosoph schockte 1979 mit seinem Buch «Praktische Ethik». Singers Logik: Ein wenige Wochen alter Fötus hat das Bewusstseinsstadium einer Pflanze. Folglich ist die Tötung beider Objekte moralisch gleichwertig. Ein Schimpanse dafür ist kognitiv auf der Höhe eines Vorschulkindes, weshalb intelligente Tiere entsprechende Rechte erhalten sollten.
Und was sagt Singer zur Corona-Politik? Er hat sich mehrfach geäussert. Seine Hauptaussage: Der Schaden aufgrund der Covid-Bekämpfung dürfe nicht grösser als der Schaden durch die Krankheit selber sein. Zum Schutz der besonders Gefährdeten fordert er einen neuen Umgang mit Datenschutz und technologischen Möglichkeiten (und kritisiert in einem Essay dabei explizit die Schweiz).
Verglichen mit früher scheint der streitbare Superstar der zeitgenössischen Philosophie indes altersmilde geworden zu sein. Wen wunderts – der 74-jährige Singer gehört zur Corona-Risikogruppe.
In letzter Zeit übrigens häufen sich wieder Heidi-Klum-Berichte in den Medien. Vielleicht ein hoffnungsvolles Zeichen neuer Normalität.