Darum gehts
- Jenische in der Schweiz: Anerkannte Minderheit mit dunkler Vergangenheit
- Kindeswegnahmen und Verfolgung prägten die Geschichte der Jenischen
- Bis 1981 wurden Hunderte jenische Kinder Opfer von Fremdplatzierung
Die Jenischen sind eine national anerkannte Minderheit. Sie sprechen eine eigene Sprache, pflegen ihre eigene Kultur – und gehören ebenso zur Schweiz wie jede andere Bevölkerungsgruppe. Einige leben bis heute traditionell als Nomaden. Doch ein dunkles Kapitel ihrer Geschichte wirkt bis heute nach: Einst als «Zigeuner» verunglimpft, trägt die jüngere Generation das Erbe einer belasteten Vergangenheit weiter.
Eine Dimension dieser Erfahrungen ist heute gut dokumentiert: der Raub jenischer Kinder. Bis 1973 wurden Hunderte von ihnen Opfer von Fremdplatzierungen durch das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Dieses verfolgte Schweizer Jenische und Sinti systematisch – und entriss den Gemeinschaften ihre Kinder. Das Projekt wurde 1926 von der halbstaatlichen Stiftung Pro Juventute initiiert und vom Bund finanziell wie ideell unterstützt.
Hunderte geraubter Kinder
Die Historikerin Sara Galle hat diesen Teil der Geschichte intensiv erforscht. Ihre Arbeit bildet eine zentrale Grundlage für die heutige Aufarbeitung und zeigt, dass neben Pro Juventute auch kommunale und kantonale Behörden an den Kindeswegnahmen beteiligt waren. Die erzwungene Assimilierung an die Mehrheitsgesellschaft endete dabei oft nicht mit der Platzierung in fremden Familien.
«Als Jugendliche und Erwachsene wurden sie mitunter in Zwangsarbeitsanstalten, Gefängnisse und psychiatrische Kliniken eingewiesen», sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) zu Blick. In einzelnen Fällen sei es auch zu Zwangssterilisationen gekommen.
Verfolgung unter Nazi-Deutschland
Alfred Werro (66), Präsident des Zigeuner-Kultur-Zentrums, verweist auf einen weiteren Schatten der jenischen Geschichte. Das NS-Regime verübte im Rahmen des Holocaust nicht nur an der jüdischen Bevölkerung einen Völkermord, sondern auch an den sogenannten Zigeunern – darunter Roma, Sinti und Jenische.
Auch die Schweizer Behörden waren daran nicht unbeteiligt: Laut dem Historischen Lexikon der Schweiz arbeitete das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement ab 1923 an einer internationalen «Zigeunerkartei» mit. Diese diente später als Grundlage für die massenhafte Ermordung von Jenischen, Sinti und Roma während der NS-Zeit.
Oft werde dabei nur über die Roma gesprochen, sagt Werro – dabei sei auch seine eigene Familie betroffen gewesen: «Meine Grossmutter und viele von ihren Mitmenschen sind in Dachau ermordet worden.» Dachau, eines der ersten Konzentrationslager, lag bei München (D).
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Das systematische Vorgehen gegen die Jenischen und Sinti in der Schweiz wurde im Februar vom Bundesrat nach Massgabe des heutigen Völkerrechts als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» anerkannt. Noch ist das ganze Ausmass des Vorgehens gegen die Jenischen nicht bekannt. «Die von der Pro Juventute veranlassten Kindeswegnahmen sind nur ein Teil der Diskriminierung der Jenischen in der Schweiz», sagt Sara Galle. Die Historikerin plädiert deshalb für eine umfassende Aufarbeitung in den Kantonen. Involviert gewesen seien auch kirchliche Institutionen, etwa das Seraphische Liebeswerk Solothurn.
Laut Galle könnte der Bundesrat damit zeigen, dass er Verantwortung für das begangene Unrecht übernimmt. Auch weitere Massnahmen seien nötig. Dazu gehöre die Thematisierung in der Schule und die Verankerung des Geschehenen im kollektiven Gedächtnis. Schliesslich brauche es auch genug Lebensraum für nomadisierende Jenische und Sinti. Eine vollumfängliche Entschuldigung des Bundesrats für das anerkannte Verbrechen blieb den Jenischen und Sinti bisher verwehrt.