Darum gehts
Am 21. Februar war es so weit: Die Sonne strahlte unverdeckt vom Himmel und heizte landauf, landab den Solarzellen ein. Um die Mittagszeit speisten diese erstmals dieses Jahr mehr Strom ins Netz ein als alle hiesigen Atomkraftwerke zusammen: rund drei Gigawatt (GW). Und das im Winter. So manch einer blätterte ungläubig durch die Statistiken und sah: Das war kein Einzelfall.
Es verändert sich viel. In den ersten drei Monaten dieses Jahres stammten laut Zahlen von Swiss Energy-Charts bereits 8 Prozent des in der Schweiz produzierten Stroms aus Solarzellen. Da mag Wetterglück hineingespielt haben. Aber klar ist auch: Die Energiewende ist so richtig ins Rollen gekommen.
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Mit den 8 Prozent lag der Solaranteil im Winterquartal gleich hoch wie 2024 im Jahresdurchschnitt. Und Solar ist ein Sommerprodukt, da die im Winter flacher scheinende Sonne weniger Energie liefert. 2025 dürfte der Beitrag der Photovoltaik (PV) denn auch weit im zweistelligen Bereich landen. Prognosen gehen von 14 Prozent aus.
Und so hat ein Thema die Angst vor der Mangellage abgelöst: dass das Netz in den Sommermonaten schon bald wegen zu viel Stroms überlastet sein könnte. Eine Frage, die mit dem Rekord-Blackout in Spanien vom vergangenen Montag eine ganz neue Brisanz erhalten hat. Denn Experten ist längst klar: Es herrscht akute Sonnenbrandgefahr.
«Flatterstrom» als «neue Realität»
Der Ausbau hat dazu geführt, dass zeitweise riesige Solarstrommengen ins Netz drücken, wenn die Sonne scheint. Und ebenso schnell verschwinden, wenn sich Wolken breitmachen. «Flatterstrom» nennen das die Kritiker. Profis sprechen nüchtern von der «neuen Realität». Und von Anbietern, welche die Versorgung anders managen müssen und viel zu oft im Blindflug unterwegs sind.
Das vergangene Jahr hat vielen die Augen geöffnet: Die höchste registrierte Solarstromeinspeisung im Jahr 2024 betrug 4,6 GW – so viel wie bei 3,5 AKW des Typs Leibstadt. Diesen Sommer dürften noch deutlich höhere Werte gemessen werden, denn pro Jahr werden neue Solarzellen mit einer Leistung von 1 bis 2 GW installiert. PV ist längst kein grünes Hirngespinst mehr, sondern Big Business.
Die Menge wäre kein Problem. Der Sonnenstrom lässt sich speichern. Entweder direkt in Batterien oder indirekt, indem Wasserkraftwerke heruntergefahren werden oder mit dem Strom Wasser in Stauseen hochgepumpt wird, das dann in der Nacht verstromt werden kann. Dieses Tag-Nacht-Geschäft beherrschen die Schweizer Stromkonzerne aus dem Effeff. Riesige Mengen verschieben sie so jeden Tag, oft auch über die Landesgrenzen hinaus.
Doch es gibt zwei Unterschiede: Während der Wasserstrom primär über das gut ausgebaute Höchstspannungsnetz transportiert wird, zwängt sich der Solarstrom auch durch die Verteilnetze in Städten und Dörfern. Vor allem aber sind viele Versorger nicht fähig, das Auf und Ab beim Solarstrom richtig zu prognostizieren, weshalb sie oft danebenliegen und zu viel oder zu wenig Strom einspeisen. Das ist das grösste Problem. Denn eine Regel bestimmt alles: Im Netz muss immer gleich viel Strom produziert wie verbraucht werden.
Schlechte Prognosen machen, dass die Swissgrid mehr korrigieren muss
«Im Frühjahr und Sommer 2024 häuften sich Situationen mit grossen Unausgeglichenheiten, weil die Einspeisung der PV-Produktion in Echtzeit nicht den Prognosen entsprach», schreibt die Swissgrid, Betreiberin des nationalen Übertragungsnetzes, in einem Bericht. Sie spielt in solchen Momenten die Nothelferin und ruft entweder Leistung in Kraftwerken ab oder fordert die Vertragspartner auf, Strom zu beziehen. Dafür betreibt sie einen Marktplatz. Doch der ist teuer. Immer dann, wenn die Abweichungen besonders gross sind, explodieren die Preise. Vereinfacht gesagt liegt das an einem neuen Marktmodell und an der Tatsache, dass es nur wenige Anbieter für Regelenergie gibt, weil die Schweiz nicht Teil des europäischen Strommarkts ist. Aber das wäre eine andere Geschichte.
Die Kosten für die Regelenergie werden an jene Werke weiterverrechnet, welche die Abweichungen verursacht haben. 40 Millionen Franken kostete das beispielsweise die Baselbieter Versorgerin Primeo im vergangenen Jahr, wie diese gerade offengelegt hat. Etwa halb so viel wie der Jahresgewinn. Grund dafür sei der «dysfunktionale» Regelenergiemarkt, schreibt das Unternehmen auf Anfrage.
Fahrpläne müssen die Wetterprognosen berücksichtigen
Eigentlich ist es einfach. Jeder Versorger muss sicherstellen, dass er jederzeit die richtige Menge Strom bezieht, um seine Kunden beliefern zu können. Dafür erstellt er einen Fahrplan, der Angebot und Nachfrage modelliert. Wann wird gekocht? Wie viel Strom braucht die Industrie? Fliesst viel Wasser durch die Flusskraftwerke? Und brennt die Sonne auf die Solarzellen? All das sollte in die Prognosen der Anbieter einfliessen, wenn sie sauber arbeiten.
Und so sieht Swissgrid-Manager Bastian Schwark das Problem für die zunehmenden Abweichungen nicht beim Solarstrom. «Die Schwankungen wären kein Problem, wenn die Versorger genaue Prognosen erstellen würden», sagt der Leiter Market Operations. Und da gebe es grosse Unterschiede. Er verweist auf Deutschland, wo es viel mehr Solar- und Windstrom gibt. «Würde Deutschland mit zehnmal mehr Solarkapazität noch so prognostizieren wie wir in der Schweiz, wäre die Systemstabilität längst in Gefahr.»
So planen viele hiesige Versorger noch wie im zwanzigsten Jahrhundert, als es weniger elektrische Geräte, weniger elektrische Mobilität und vor allem keine Solarstromproduktion gab. Dabei haben sie die PV-Anlagen seit Jahren in ihren Netzen und kennen deren Eigenarten. Viele haben den Zubau aktiv gefördert, weil sie sich so als nachhaltig positionieren konnten.
Für die Solarprognose braucht es nicht viel mehr als Meteorologie. Die Axpo hat dafür ein Team, das rund um die Uhr Prognosen erstellt. «Wenn Sie eine Gartenparty machen, schauen sie ja auch zuerst auf den Wetterbericht», sagt Swissgrid-Manager Schwark. «Wenn da plötzlich ein Platzregen kommt und Sie haben als Alternative keinen gedeckten Sitzplatz, kommt das nächste Mal niemand mehr an Ihre Party.»
Doch viele Elektrizitätswerke werden vom Wetter überrascht. In der Branche kursieren Geschichten von Versorgern, die am Freitag eine letzte Prognose erstellen und sich dann ins Wochenende abmelden. Swissgrid hat mit Analysen bewiesen, dass einige der grössten Abweichungen letztes Jahr genau deswegen entstanden. Am Montag lag die Produktion dann in der Grössenordnung eines Atomkraftwerks daneben.
Prognosequalität muss sich verbessern
In der Schweiz gibt es rund sechshundert Versorger. Einige sind so klein, dass sie von Gemeindeangestellten im Nebenamt geführt werden. Sie vertrauen meist darauf, dass jemand anderes die Fehler in ihren Prognosen ausbügelt. Viele haben sich grösseren Unternehmen angeschlossen, die als sogenannte Bilanzgruppen gemeinsam ein ausgeglichenes Netz garantieren sollten. Früher hat das funktioniert, weil sich kleinere Fehler gegenseitig ausglichen. «Der eine war mal short, der andere long», erklärt Schwark. «Short» bedeutet, dass ein Versorger zu wenig Strom hat, «long» heisst, dass er zu viel hat. «Doch wenn heute die Sonne mehr als erwartet scheint, haben alle gleichzeitig zu viel Strom.» Er warnt: «Bessert sich die Qualität der Prognosen nicht, steigt der Regelenergieaufwand massiv an.»
Dabei gibt es ein weiteres Problem. Viele Bilanzgruppen sind im Blindflug unterwegs, weil sie keine Echtzeitdaten zu ihren Netzen haben. Noch sind viele Stromzähler nicht digitalisiert. Und sind Daten verfügbar, werden sie nur mit Verzögerung an die Bilanzgruppen weitergegeben. «Gewisse Elektrizitätswerke sind oft stundenlang long und merken das erst am nächsten Tag», sagt Schwark. «Und dann wundern sie sich, wenn sie von uns eine teure Rechnung bekommen.» Den Handlungsbedarf bestätigt auch Michael Frank, Direktor des Branchenverbands VSE, in dem die Stromversorger organisiert sind. «Datenqualität und Prognosefähigkeit müssen deutlich verbessert werden», sagt er. Der Verband fordert seine Mitglieder auf, die Prognosen auch übers Wochenende zu aktualisieren. «Wer das nicht inhouse umsetzen kann, lagert es aus», fordert Frank.
Jeder findet, der andere müsse nun reagieren
In der Branche läuft das grosse Blame-Game. Wenn es darum geht, die Nebeneffekte der Solarstromschwankungen zu managen, zeigt jeder auf den anderen. Swissgrid appelliert an die Verantwortung der Elektrizitätswerke, die Netzbetreiber appellieren an die Solarstromeinspeiser, und die Solarstrombranche sagt: Es bräuchte bloss bessere Speicher für die Pufferung. Auch die Marktaufsicht Elcom spricht zunehmend Klartext und fordert die Branche auf, die Netze in den Griff zu bekommen. Denn von Jahr zu Jahr werden die Schwankungen grösser. Mit derzeit 8 GW installierter Leistung ist die Photovoltaik noch weit weg vom Ausbauziel des Bundes, das bei rund 35 GW liegt.
Die Zeiten des «Feed in and forget» durch die Solarstromproduzenten seien vorbei, betonen mehrere Akteure. Lange war das die offizielle Politik. Mit fixen Einspeisevergütungen wurden Eigenheimbesitzer dazu ermuntert, Solarpanels zu installieren. Erst Investitionen, dann jahrelange Erlöse aus dem Stromverkauf. Ein gutes, einfaches Geschäft. Doch das wird nun auf den Kopf gestellt.
«Die Solarbranche mit mittlerweile 14 Prozent der Schweizer Produktion muss ihre Verantwortung wahrnehmen», sagt Verbandsdirektor Frank. «Sie kann nicht mehr einfach einspeisen, bis es ‹chlöpft›.» David Stickelberger vom Solarstromverband Swisssolar gibt zurück: «Viele Netzbetreiber wissen zu wenig über ihre Stromflüsse, und die rasch steigende Menge Solarstrom überfordert sie.»
Batterien haben schönen Nebeneffekt
Was ist die Lösung? Noch betreibt die Branche Symptombekämpfung. Swissgrid bügelt die Planungsfehler der Versorger aus. Und die Netzbetreiber setzen zunehmend auf Batterien, um Schwankungen auszugleichen. Landauf, landab werden Akkus im Megawattbereich montiert. Batterien sind aus mehreren Gründen elegant: Anders als Wasserkraftwerke befinden sie sich direkt in den Verteilnetzen, wo die PV-Anlagen stehen. Sie sind schnell verfügbar und günstig geworden. Und für die Eigentümer haben sie einen netten Nebeneffekt: Wird in Überschusszeiten geladen und in Zeiten mit wenig Strom entladen, stützt das nicht nur das Netz, sondern auch die Kasse. Denn durch die damit einhergehenden Preisschwankungen kann ein Eigentümer im lukrativen Arbitragegeschäft mitmischen.
Massnahme zwei ist radikaler: Mit dem sogenannten Peak -Shaving soll erreicht werden, dass die PV-Anlagen gar nie mit Maximalleistung ins Netz pumpen. Das bedeutet, dass Netzbetreiber die Einspeisung begrenzen können, wenn die Produktion sprunghaft ansteigt. Die Rede ist von rund 6 Prozent der jährlichen Produktion, die so abrasiert würden. Die rechtliche Grundlage dafür steht ab 2026 in der Stromverordnung, viele Stromversorger bauen das auch in die Verträge ein. Wer seine Anlage freiwillig auf 60 bis 70 Prozent begrenzt, bekommt dann beispielsweise einen besseren Strompreis.
Künftig sollen PV-Besitzer ihre Anlagen aktiv bewirtschaften: Bei einem Überangebot sollen sie den Eigenverbrauch fördern und etwa die Wärmepumpe laufen lassen, in Zeiten mit stärkerer Nachfrage sollen sie mehr einspeisen. «Ein optimierter Eigenverbrauch wäre die beste Lösung», betont VSE-Direktor Frank. Dazu müssten marktnähere Strompreise beitragen. Doch die Krux: Heute setzen viele Werke auf fixe Einspeisetarife und Tag-Nacht-Stromtarife, die mit dem vom Solarstrom geprägten Strommarkt nichts mehr zu tun haben. Die Folge: Viele Boiler laufen genau dann an, wenn die Solarstromproduktion am Abend abnimmt und alle Pendler ihre Teslas einstöpseln.
Reine Bandstrom-Kraftwerke produzieren zunehmend am Markt vorbei
Der Solarstrom hat die Schweiz ins 21. Jahrhundert katapultiert. Einmal montiert, liefern PV-Panels Strom mit wenig Grenzkosten und geringem CO₂-Fussabdruck. Die grösste Herausforderung dabei ist das Sommer-Winter-Gefälle in der PV-Produktion. Es braucht den starken Ausbau, um auch im Winter die Atomkraftwerke ersetzen zu können. Gleichzeitig nagt der PV-Ausbau am Geschäftsmodell der Bandstromkraftwerke, die immer gleich viel Strom einspeisen – Flusskraftwerke und AKW.
Kaum beachtet wurde ein Satz von VSE-Managerin Nadine Brauchli an einer Branchentagung im Januar. «Aus Systemsicht» sei in der Schweiz «nur ein AKW mit einem Gigawatt Leistung im Langzeitbetrieb» sinnvoll, «weil wir sonst im Sommerhalbjahr zu hohe Überschüsse haben». Kein Wunder, spricht in der Branche – anders als in der Politik – kaum jemand von neuen Atomkraftwerken.
Klar ist nur: Der Ausbau geht weiter, jedes Jahr stossen Solarpanels im Gigawattumfang ins Schweizer Netz. Die Prognosen rechnen dann jeweils mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren, doch faktisch sind die Solarkraftwerke oft länger im Netz. Denn einmal aufgestellt, produzieren sie fast kostenlos Strom. Ob wir ihn brauchen oder nicht.