Der Zürcher Albert Mülli (1916–97) sass drei Jahre in Dachau (D)
Das KZ überlebt – und dann von der Schweiz ausspioniert

Albert Mülli (1916–1997) war drei Jahre lang im KZ. Das Trauma verfolgte ihn bis in den Tod. Seine Töchter erzählen – und fordern vom Bund endlich Anerkennung für ihren Vater und die Schweizer KZ-Häftlinge.
Publiziert: 27.10.2019 um 23:04 Uhr
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Aktualisiert: 28.10.2019 um 18:29 Uhr
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Drei Jahre lang war Albert Mülli (1916-1997) in einem KZ – und überlebte. Die Schweiz kümmerte sich nicht um sein Schicksal.
Foto: Schweizerisches Bundesarchiv
Benno Tuchschmid

Der Zürcher Albert Mülli (1916–1997) war 26 als die Nazis ihn ins KZ Dachau bei München einwiesen. Er hatte 1938 politische Flugblätter von Zürich nach Wien geschmuggelt – und war in eine Falle der Gestapo geraten. Als er aus Dachau befreit wurde, war er 29. Seine Töchter Vreni Sommer (66) und Ursula Zellweger (64) erzählen, wie es war, mit einem Vater aufzuwachsen, der die Hölle überlebt hatte – und kaum darüber sprach. Sie wollten beide nicht fotografiert werden. Für sie ist klar: Die Geschichte ihre Vaters soll im Zentrum stehen.

BLICK: Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Vater Albert Mülli in einem Konzentrationslager war?
Vreni Sommer: Erst als wir in der Mittelstufe waren.
Ursula Zellweger: Wir besuchten oft Bekannte in München. Wenn unsere Eltern für ein paar Stunden weg waren, hüteten sie uns. Irgendwann fragten wir: Was tut ihr eigentlich?
Sommer: Da erfuhren wir, dass sie das KZ Dachau besuchten, wo mein Vater inhaftiert gewesen war.

Was erzählte Ihr Vater über die Zeit im KZ?
Sommer: Nicht viel. Er wiegelte eher ab, weil er uns nicht belasten wollte und betonte, wer ihm alles geholfen habe.

Wer hatte ihm geholfen?
Sommer: Einmal wollte man ihn in die Gaskammern schicken, da hat sich ein KZ-Arzt für ihn eingesetzt.
Zellweger: Er trichterte uns zudem von Anfang an ein, dass wir einen Beruf erlernen sollen. Der Beruf habe ihm das Leben gerettet.

Wieso?
Sommer: Als gelernter Sanitär- und Heizungsmonteur setzten ihn die Nazis ausserhalb des Lagers in privaten Villen von SS-Offizieren als Zwangsarbeiter ein. Er hatte dadurch kleine Privilegien.
Zellweger: In einem dieser Häuser steckte ihm eine Frau immer wieder Essen zu und schmuggelte Briefe. Zu ihr hatte er auch nach dem Krieg noch Kontakt. Das wahre Ausmass seiner KZ-Zeit erfuhren wir erst kurz vor seinem Tod.

Wie?
Sommer: Unser Vater wurde dement. Eine Spezialistin führte diese Hirnschäden auf die Folter im KZ zurück. In der Nacht bekam er oft Angstzustände. Einmal rief die Polizei an, dass er auf dem Balkon stehe und um Hilfe rufe. Er dachte, er sei wieder im KZ.
Zellweger: Als wir seine Wohnung räumten, fanden wir dann all die Briefe, die er als Häftling geschrieben und erhalten hatte. Erst da realisierten wir, wie fundamental er durch die Zeit im KZ geprägt war. Im Pflegeheim ratterte er manchmal seine Häftlings- und Blocknummer runter, wie damals beim Appell.

Über 200 Schweizer in KZ ermordet

Mindestens 391 Schweizerinnen und Schweizer waren zwischen 1933 und 1945 in einem NS-Konzentrationslager inhaftiert. Mindestens 201 von ihnen starben. Rechnet man Männer, Frauen und Kinder dazu, die in der Schweiz geboren wurden, in vielen Fällen hier aufwuchsen, aber nicht die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen, sind es sogar 719 Häftlinge, von denen 245 starben, also jeder Dritte.

Ein Autorenteam hat für das Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» zum ersten Mal dieses unerforschte Kapitel Schweizer Geschichte aufgearbeitet – und genaue Opferzahlen ermittelt.

Alle Schweizer wurden in von Deutschland besetzten Staaten verhaftet, wo die meisten von ihnen als Auslandschweizer lebten. Die Nazis nahmen sie aus unterschiedlichen Gründen fest: weil sie Widerstandskämpfer, Juden, Sozialisten, «Asoziale», Zeugen Jehovas oder Sinti und Roma waren. 

Wo die Schweiz versagte

Die Schweiz setzte sich nur in Einzelfällen für ihre Bürger in Not ein, obwohl sie Möglichkeiten gehabt hätte: In den letzten Kriegsjahren zeigte Deutschland starkes Interesse, eine grosse Zahl Schweizer Gefangenen gegen in der Schweiz inhaftierte Deutsche auszutauschen. Doch das Schweizer Aussenministerium ergriff die Chance nicht. In einem Schreiben vom 15. Juli 1944 hielten die Behörden fest, welche Schweizer Häftlinge für Bern grundsätzlich nicht für einen Austausch infrage kamen: Kriminelle und solche, «die eine Tätigkeit ausgeübt hatten, die auch in der Schweiz unter Strafe gestellt ist oder aber im mindesten den schweizerischen Interessen abträglich scheint (wie beispielsweise Spionage gegen Deutschland zugunsten dritter Staaten, Beteiligung an der Widerstandsbewegung in Frankreich, kommunistische Umtriebe)».

Mit anderen Worten: Wer sich aktiv gegen die NS-Diktatur engagiert hatte, konnte keine Hilfe erwarten.

Für das Autorenteam ist nach vierjähriger Recherche klar: Die Schweiz hätte Dutzende ihrer Bürger retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck eingesetzt hätte.

Mindestens 391 Schweizerinnen und Schweizer waren zwischen 1933 und 1945 in einem NS-Konzentrationslager inhaftiert. Mindestens 201 von ihnen starben. Rechnet man Männer, Frauen und Kinder dazu, die in der Schweiz geboren wurden, in vielen Fällen hier aufwuchsen, aber nicht die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen, sind es sogar 719 Häftlinge, von denen 245 starben, also jeder Dritte.

Ein Autorenteam hat für das Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» zum ersten Mal dieses unerforschte Kapitel Schweizer Geschichte aufgearbeitet – und genaue Opferzahlen ermittelt.

Alle Schweizer wurden in von Deutschland besetzten Staaten verhaftet, wo die meisten von ihnen als Auslandschweizer lebten. Die Nazis nahmen sie aus unterschiedlichen Gründen fest: weil sie Widerstandskämpfer, Juden, Sozialisten, «Asoziale», Zeugen Jehovas oder Sinti und Roma waren. 

Wo die Schweiz versagte

Die Schweiz setzte sich nur in Einzelfällen für ihre Bürger in Not ein, obwohl sie Möglichkeiten gehabt hätte: In den letzten Kriegsjahren zeigte Deutschland starkes Interesse, eine grosse Zahl Schweizer Gefangenen gegen in der Schweiz inhaftierte Deutsche auszutauschen. Doch das Schweizer Aussenministerium ergriff die Chance nicht. In einem Schreiben vom 15. Juli 1944 hielten die Behörden fest, welche Schweizer Häftlinge für Bern grundsätzlich nicht für einen Austausch infrage kamen: Kriminelle und solche, «die eine Tätigkeit ausgeübt hatten, die auch in der Schweiz unter Strafe gestellt ist oder aber im mindesten den schweizerischen Interessen abträglich scheint (wie beispielsweise Spionage gegen Deutschland zugunsten dritter Staaten, Beteiligung an der Widerstandsbewegung in Frankreich, kommunistische Umtriebe)».

Mit anderen Worten: Wer sich aktiv gegen die NS-Diktatur engagiert hatte, konnte keine Hilfe erwarten.

Für das Autorenteam ist nach vierjähriger Recherche klar: Die Schweiz hätte Dutzende ihrer Bürger retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck eingesetzt hätte.

Von Österreich wurde Ihr Vater nach dem Krieg als antifaschistischer Kämpfer anerkannt. In der Schweiz erfuhr er von offizieller Seite her nie Anerkennung. Wie empfinden Sie das?
Sommer: Mich wundert es leider nicht. Ich habe das Gefühl, auch heute sei der Wille zur Aufarbeitung in der Schweiz gering.
Zellweger: Man hat in der Schweiz die Spanienkämpfer rehabilitiert. Man hat die Verdingkinder und die administrative Versorgung aufgearbeitet. Wieso geschieht bei diesem Thema nichts von offizieller Seite her? Um Geld oder Entschädigungen geht es nicht. Aber ein Wort der Anerkennung durch die Schweizer Behörden wäre nichts als gerecht.

Das mörderische Lagersystem der Nazis

Gleich nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Einrichtung von Konzentrationslagern. Zwischen März und April 1933 nahmen sie über 45'000 politische Gegner fest und inhaftierten sie in Gefängnissen und improvisierten Lagern, die sie in leer stehenden Fabriken, Gewerbeanlagen und Kasernen einrichteten.

Die Entstehung des nationalsozialistischen Lagersystems steht in enger Verbindung mit dem Aufstieg Heinrich Himmlers und der Schutzstaffel (SS), einem Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument der Nazis.

Auf Himmlers Befehl entstand 1936 mit dem KZ Sachsenhausen bei Berlin das erste grosse Konzentrationslager, das für viele weitere als Vorbild dienen sollte. Insgesamt errichtete die SS im Verlaufe der NS-Diktatur 27 Hauptlager und über 1100 dazugehörende Aussenlager, in denen alles in allem mehrere Millionen Häftlinge landeten. Die Nazis inhaftierten Juden, Linke, Widerstandskämpfer, Kriminelle, Zeugen Jehovas, Sinti, Roma und weitere Bevölkerungsgruppen, die sie als minderwertig betrachteten.

Im Krieg wurden die KZ zu Tötungsanstalten

Mit dem Ausbruch des Kriegs wurden die Konzentrationslager zu Tötungsanstalten. Ab 1941 exekutierten die Deutschen Hunderttausende Rotarmisten in den KZ.

1942 begann dann der systematische Massenmord an den Juden Europas. Die Nazis hatten dafür auf dem heutigen Staatsgebiet von Polen und Weissrussland Vernichtungslager gebaut (z. B. Auschwitz-Birkenau, Sobibor oder Treblinka), in denen die deportierten jüdischen Häftlinge meist gleich nach ihrer Ankunft in Gaskammern ermordet wurden.

Gemäss neustem Forschungsstand starben bis zum Kriegsende in den Konzentrationslagern über 3,4 Millionen Menschen.

Wer noch lebte, war abgemagert bis auf die Knochen: Den amerikanischen Befreiern bot sich ein schreckliches Szenario, als sie im KZ Buchenwald eintrafen.
Keystone

Gleich nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Einrichtung von Konzentrationslagern. Zwischen März und April 1933 nahmen sie über 45'000 politische Gegner fest und inhaftierten sie in Gefängnissen und improvisierten Lagern, die sie in leer stehenden Fabriken, Gewerbeanlagen und Kasernen einrichteten.

Die Entstehung des nationalsozialistischen Lagersystems steht in enger Verbindung mit dem Aufstieg Heinrich Himmlers und der Schutzstaffel (SS), einem Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument der Nazis.

Auf Himmlers Befehl entstand 1936 mit dem KZ Sachsenhausen bei Berlin das erste grosse Konzentrationslager, das für viele weitere als Vorbild dienen sollte. Insgesamt errichtete die SS im Verlaufe der NS-Diktatur 27 Hauptlager und über 1100 dazugehörende Aussenlager, in denen alles in allem mehrere Millionen Häftlinge landeten. Die Nazis inhaftierten Juden, Linke, Widerstandskämpfer, Kriminelle, Zeugen Jehovas, Sinti, Roma und weitere Bevölkerungsgruppen, die sie als minderwertig betrachteten.

Im Krieg wurden die KZ zu Tötungsanstalten

Mit dem Ausbruch des Kriegs wurden die Konzentrationslager zu Tötungsanstalten. Ab 1941 exekutierten die Deutschen Hunderttausende Rotarmisten in den KZ.

1942 begann dann der systematische Massenmord an den Juden Europas. Die Nazis hatten dafür auf dem heutigen Staatsgebiet von Polen und Weissrussland Vernichtungslager gebaut (z. B. Auschwitz-Birkenau, Sobibor oder Treblinka), in denen die deportierten jüdischen Häftlinge meist gleich nach ihrer Ankunft in Gaskammern ermordet wurden.

Gemäss neustem Forschungsstand starben bis zum Kriegsende in den Konzentrationslagern über 3,4 Millionen Menschen.

Wie fühlte sich Ihr Vater von seinem Heimatland behandelt?
Zellweger: Er fühlte sich durch die Schweiz vernachlässigt, er erhielt während der Haft keine Unterstützung. Er sagte immer, dass während des Zweiten Weltkriegs zu viele Nazifreunde in der Schweizer Regierung gewesen seien.

Im Fichenskandal Ende der 80er-Jahre kam dann noch heraus, dass ihn der Schweizer Geheimdienst nach seiner Befreiung aus dem KZ über Jahre hinweg bespitzeln liess.
Zellweger: Diese Fichen trafen ihn enorm. Ihn traf auch, dass dort viele Falschinformationen transportiert wurden. Unter anderem, dass er Kommunist gewesen sein soll, was er nie war. Es war wie eine zweite Verurteilung.

Das Buch

Die Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid (Leiter SonntagsBlick Magazin) haben in einer vierjährigen Recherche zum ersten Mal die Geschichte von Schweizern in Konzentrationslagern aufgearbeitet. «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs» untersucht, was die Schweizer Behörden für ihre Mitbürger getan haben und zeigt eine umfassende Opferliste. In Porträts werden zudem exemplarisch zehn Lebensgeschichten aufgezeichnet.

Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid, «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs», NZZ Libro, 48 Fr. Buchvernissage am Dienstag, 29. Oktober, 19.30 Uhr, Kosmos, Lagerstrasse 104, 8004 Zürich

Benno Tuchschmid, Leiter SonntagsBlick Magazin.

Die Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid (Leiter SonntagsBlick Magazin) haben in einer vierjährigen Recherche zum ersten Mal die Geschichte von Schweizern in Konzentrationslagern aufgearbeitet. «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs» untersucht, was die Schweizer Behörden für ihre Mitbürger getan haben und zeigt eine umfassende Opferliste. In Porträts werden zudem exemplarisch zehn Lebensgeschichten aufgezeichnet.

Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid, «Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs», NZZ Libro, 48 Fr. Buchvernissage am Dienstag, 29. Oktober, 19.30 Uhr, Kosmos, Lagerstrasse 104, 8004 Zürich

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