Herr alt Bundesrat, Sie sind Ehrenbürger von Kandersteg und mehrerer Gemeinden im Lötschental …
Von allen vier Gemeinden im Lötschental. Ich bin mit diesem Tal tief verbunden. Ich stand mit 13 Jahren, das war 1955, auf dem Bietschhorn. Es gehörte bei uns zum Sommerprogramm, dass wir jedes Jahr ins Lötschental gefahren sind.
Und jetzt die Katastrophe. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Der Berg hat seinen Halt verloren. Erinnerungen wurden wach an das, was ich als Bundespräsident im Jahr 2000 erlebt habe, als in Gondo 13 Menschen ums Leben gekommen sind. Ich war an einem Samstag an der Delegiertenversammlung der SVP in Basel, plötzlich kam ein Mitarbeiter zu mir und sagte, dass etwas ganz Schlimmes passiert sei.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe sofort veranlasst, dass die besten Leute alle wichtigen Informationen zusammentragen. Die ersten Rekruten waren am Abend um 10 Uhr bereits am Simplon. Am anderen Tag reiste ich mit dem Helikopter sofort Richtung Gondo. Dort sagte mir Gemeindepräsident Roland Squaratti: Ich habe jetzt gerade zwei Brüder verloren. All das ist jetzt bei mir wieder hochgekommen. Die Stärke der Natur, die Unberechenbarkeit im gewissen Sinn, die Schicksalsschläge, die das auslöst, sogar Tote. Ich hatte Tränen.
Sie sagen, der Berg hat seinen Halt verloren. Was tun, damit der Mensch nicht seinen Halt verliert?
Kühlen Kopf bewahren. Das, was jetzt das Lötschental beispielhaft vormacht. Was die Menschen dort geleistet haben, ist sehr bemerkenswert und beispielgebend für alle anderen künftigen Katastrophen. Wir sind ein Gebirgsland. Und wir dürfen nie vergessen, dass die Schweiz zwischen Schwachen und Starken zusammengewachsen ist. Katastrophen können im ganzen Land passieren. Sogar in Genf, Bern, Zürich, Basel, St. Gallen, überall. Wir sollten jetzt ja nicht den Fehler machen und Land und Stadt gegeneinander ausspielen. Das ist ganz wichtig. In der Präambel unserer Bundesverfassung steht: «Und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.» Der Bürger muss das spüren – und das haben die Bundesräte Rösti und Pfister und die Bundespräsidentin Keller-Sutter sehr gut gemacht. Jetzt ist Hilfe gefragt – bei einem Bundesbudget von 85 bis 90 Milliarden muss doch Geld für Leute in Not in der Schweiz vorhanden sein.
Sie sind aus Kandersteg, auf der anderen Seite des Massivs. Peter Bodenmann hat in den Tamedia-Zeitungen gesagt, dass Ihr Heimatort als Nächstes dran sein könnte.
Dazu sage ich Folgendes: Kandersteg, die Gemeinde mit der Schwellenkorporation mit dem Kanton Bern, hat seit 2019 vorsorgliche Massnahmen getroffen. Unter anderem wurden Sperrgebiete erlassen, die einschneidend sind für einen Tourismusort. Man kann beispielsweise gewisse SAC-Hütten nicht mehr auf dem direkten Weg begehen. Und für gegen zehn Millionen Franken wurden Dämme aufgebaut. Man hat das modernste Überwachungssystem installiert und einen Evakuierungsplan erstellt.
Also alles sicher?
Man kann die beiden Situationen schlicht nicht vergleichen, wie Herr Bodenmann das tut. Im Lötschental geht es um einen Berg mit einem Gletscher. Das macht die ganze Sache so schwierig. In Kandersteg hingegen kommt von Zeit zu Zeit Geröll herunter.
Kandersteg ist nicht gefährdet?
Nein, dank all der genannten Massnahmen. Das ist sehr wichtig. Aber das Lötschental ist ein Lehrstück, wie man es machen muss. Es ist ein Lehrstück von Kompetenz, die auf allen Stufen vorhanden ist. Es ist ein Lehrstück, wie man Menschenleben retten kann, mit einer präzisen Vorhersage. Es ist ein Lehrstück, wie ein Führungsstab funktionieren muss. Es ist auch unglaublich, wie stark die Leute in dieser Katastrophe handeln, wie stark sie entscheiden, wie verantwortungsvoll sie die nötigen Massnahmen treffen. Blatten ist ein Lehrstück der Zusammenarbeit der Wissenschaft mit Miliz und Politik. Und ein Lehrstück in Kommunikation. Ich rufe zur Solidarität mit dem Lötschental auf.