Viele waren enttäuscht, die meisten verdutzt – und manche verärgert. Was Ignazio Cassis (56) als diesjähriger Gastredner am SVP-Traditionsanlass zum heimischen Züri Gschnätzlete servierte, hätte auch aus der Küche seines Vorgängers Didier Burkhalter (57) stammen können: Der Tessiner Bundesrat setzte sich für ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union ein – das für die SVP den direkten Weg in die «Knechtschaft» bedeutet.
«Wir Schweizer würden auch nie akzeptieren, dass ein ausländisches Gericht unser Recht auslegt. Die EU sieht das ähnlich», rief der Freisinnige den Männer und Frauen bei der traditionellen Albisgüetli-Tagung der Rechtspartei zu. Schliesslich wolle die Eidgenossenschaft einen Zugang zum europäischen Binnenmarkt, so Cassis. Die Forderung Brüssels, dass ein EU-Gericht bei der Auslegung der Regeln für diesen Zugang eine Rolle spiele, sei «meiner Meinung nach nachvollziehbar».
Keine Spur von «Reset»
Kaum drei Monate im Amt, ist der einstige FDP-Fraktionschef bereits zu hundert Prozent auf Bundesratslinie. Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ist das wichtigste Thema in der Aussenpolitik – eine institutionelle Anbindung der Eidgenossenschaft an die europäische Staatengemeinschaft das grosse Ziel. Von «Reset» oder Kurswechsel keine Spur.
Die Ernüchterung in den Reihen der SVP ist daher verständlich. Schliesslich wurde Cassis auch mit den Stimmen der Volkspartei in die Landesregierung gewählt – in der Hoffnung, dass er gegenüber der EU distanzierter auftrete als sein Vorgänger. Vor seiner Wahl im September punktete Cassis in der SVP-Fraktion noch mit einer strikten Haltung gegenüber Brüssel.
In der Sache folgt Cassis zwar Burkhalter. Doch er versucht es mit einer anderen Strategie. Wie SonntagsBlick erfahren hat, informierte er kürzlich die Kader in seinem Departement, es sei sein Ziel, die Stimmbürger von der bundesrätlichen Aussenpolitik zu überzeugen. Statt viel zu reisen wie Burkhalter, wolle er verstärkt mit der Schweizer Bevölkerung in Kontakt treten.
Cassis will in der Schweiz bleiben
Am Rand der Albisgüetli-Tagung bestätigt Cassis: «Ja, ich habe mit meinen Leuten im EDA gesprochen und angekündigt, dass ich weniger im Aus- als im Inland anzutreffen sein werde.» Die Aussenpolitik müsse vom Schweizer Volk verstanden und akzeptiert werden. Nur wenn das Verständnis wachse, seien auch Fortschritte möglich: «Ich will dafür sorgen, dass unser Tun im Ausland vom Schweizer Volk verstanden und mitgetragen wird.»
Am 31. Januar wird der Bundesrat über die Ausgestaltung des Verhandlungsmandats mit Brüssel beraten. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (63) wiederum erklärte diese Woche, er werde am World Economic Forum in Davos GR nicht mit Bundespräsident Alain Berset (45, SP) zusammentreffen. Aus der Sicht von Cassis ist das kein Grund zur Klage: «Herr Juncker hat im vergangenen Jahr zweimal unsere Bundespräsidentin getroffen, wir dürfen uns nicht überschätzen.» Im Rückblick haben die beiden Besuche wenig zum gegenseitigen Verständnis zwischen Bern und Brüssel beigetragen. Die Hinwendung des Aussenministers zur Innenpolitik könnte darum durchaus sinnvoll sein. Zumindest vorläufig.
Zumal Cassis klar signalisiert, dass er auch bereit sei, den Dialog mit Kritikern von rechts zu suchen. Burkhalter war dazu – zumindest am Ende seiner Amtszeit – nicht mehr bereit oder in der Lage. Die SVP hingegen hat spätestens mit der Lancierung ihrer «Begrenzungsinitiative» die bilateralen Verträge offiziell zum Abschuss freigegeben – und den Spielraum für einen Dialog verengt. «Aussenpolitik beginnt in der Schweiz», sagte Cassis am Freitagabend im Albisgüetli. Der Kampf um die Bilateralen begann für den Tessiner zur gleichen Zeit, am gleichen Ort.