Demenzpatienten gefesselt und eingesperrt
Antifolterkommission knöpft sich Psychiatrie vor

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter hat verschiedene Altersheime und Psychiatrien besucht, um den Umgang mit Demenzkranken zu untersuchen. Dabei stösst sie auf Missstände.
Publiziert: 00:27 Uhr
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Fixierungen in Alterspsychiatrien können zum Problem werden.
Foto: imago/epd

Darum gehts

  • Nationale Kommission deckt Missstände in Altersheimen und Psychiatrien auf
  • Demenzpatienten werden stundenlang an Bett oder Tisch gefesselt
  • Geschlossene Abteilungen in Altersheimen werfen rechtliche Fragen auf
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Tobias BruggmannRedaktor Politik

Sie wurden über 20 Stunden fixiert. In der Nacht typischerweise mit Bauchgurt oder Fussmanschette, am Tag meist im Lehnstuhl mit Tischchen. Dies schreibt die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter in einem Bericht zu Demenzpatientinnen und -patienten, die in den Psychiatrischen Kliniken in Solothurn untergebracht waren. Als Gründe hätten die Mitarbeitenden unter anderem Personalmangel und ungeeignete Infrastruktur genannt. 

In den vergangenen drei Jahren kam es allein in Solothurn zu über 2000 solcher Fixierungen pro Jahr. Eine Person wurde innerhalb von zwei Monaten in der Nacht 19-mal mehrere Stunden fixiert und fast ebenso oft tagsüber. Ein Grund dafür: In der Nacht sei oft nur eine Pflegefachperson für 17 Patientinnen und Patienten zuständig, gegebenenfalls mit Unterstützung einer Laufwache für die gesamte Klinik.

Die Antifolterkommission kritisiert die Fixierungen. Sie hat seit 2021 16 Alters- und Pflegeheime sowie eine Psychiatrie besucht, um herauszufinden, wie die Menschen in geschlossenen Abteilungen behandelt werden. Wer dort lebt, leidet oftmals an einer Demenz. In der Schweiz sind davon gemäss Bundesamt für Gesundheit etwa 156'900 Menschen betroffen. Jährlich kommen rund 33'800 Neuerkrankungen hinzu. 

Rechtlich in Ordnung

Das Gesetz erlaubt zwar solche Fixierungen, erklärt Kommissionspräsidentin Martina Caroni, die an der Universität Luzern Völkerrecht lehrt. «Aber es geht nicht, dass Menschen fixiert werden, weil zu wenig Personal vorhanden ist.» Stattdessen dürften sogenannte Fixierungen nur das letztmögliche Mittel sein. «Zuvor müssen mildere Massnahmen wie tiefere Betten und zusätzliche Matratzen geprüft werden.» Caroni sagt: «Auch für Menschen mit Demenz gelten die Menschenrechte.»

Caroni äussert Verständnis für das Pflegepersonal. «Wir sind uns bewusst, dass die Pflegenden in einem herausfordernden Umfeld Höchstleistungen erbringen. Dennoch ist es nötig, auch die Rechte von urteilsunfähigen Menschen bestmöglich zu schützen.» Sie fordert darum, dass die bestehenden Regeln stärker umgesetzt und bewegungseinschränkende Massnahmen besser dokumentiert werden. «Das ist ein präventiver Schutz: Die Pflegenden müssen so genau überlegen, was sie als Begründung schreiben.» 

Blick hat die Psychiatrischen Dienste der Solothurner Spitäler (SOH) um eine Stellungnahme gebeten. «Die Hinweise der Kommission werden ernst genommen.» Eine hohe Patientenorientierung sei aber ein zentrales Anliegen. Auch der Kanton – der eine Aufsichtsfunktion hat – sei auf die Psychiatrie zugekommen. «So erarbeitet die SOH derzeit eine ausführliche Stellungnahme inklusive notwendiger Massnahmen.» Weil diese Massnahmen laufen, würden sie aber keine konkreten Fragen beantworten.

Geschlossene Abteilungen in Altersheimen

Fixiert wird hauptsächlich in Psychiatrien. Doch Caroni und ihre Kommission haben auch Alters- und Pflegeheime besucht. Und auch dort gibt es Fragezeichen. Fast alle Einrichtungen, die die Kommission besucht hat, verfügen über geschlossene Abteilungen. Die Eingangstüren könnten beispielsweise nur mit Zahlencodes oder Badges geöffnet werden, erzählt Caroni. «Oder es werden schwer zu öffnende Türen und Bildertapeten eingesetzt, um das Verlassen zu verhindern.»

So sollen die Gefahr des Weglaufens und das Risiko einer Selbstverletzung reduziert werden. Doch ob das überhaupt erlaubt ist, darüber streiten sich die Juristen. Die Behindertenrechtskonvention ist der Ansicht, dass Personen mit Demenz nicht eingesperrt werden dürften. Geht es nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, ist es möglich. Für Rechtsprofessorin Caroni ist entscheidend, wie die Einweisung abläuft. «Für die Kommission war es mit wenigen Ausnahmen schwierig zu überprüfen, ob die betroffenen Personen freiwillig oder unfreiwillig in der geschlossenen Abteilung untergebracht waren.» 

Meistens würde ein Betreuungsvertrag die Einweisung in die «Geschlossene» erlauben. «Dieser wird aber von den Angehörigen abgeschlossen. Es wird kaum ärztlich überprüft, ob mildere Mittel möglich wären», so Caroni. «Es braucht eine Erwachsenenschutzkommission, die solche Entscheide prüft. Längerfristig müssen geschlossene Abteilungen vermieden werden.»

Schon heute könnte mittels GPS-Kontrolle mehr Bewegungsfreiheit sichergestellt werden. Denn Demenzpatienten haben oft einen Bewegungsdrang.

Der Altersheimverband Curaviva verweist auf die Kantone. «Ihnen obliegt die Planung, Bewilligung und Aufsicht der Demenzabteilungen», sagt Geschäftsführerin Christina Zweifel. Pflegeinstitutionen würden Menschen mit Demenz eine sichere Umgebung bieten. «Oberste Priorität hat dabei stets, ein Gleichgewicht zwischen notwendigem Schutz und grösstmöglicher Selbstbestimmung zu schaffen.»

Bewegungseinschränkende Massnahmen würden mit grösster Sorgfalt eingesetzt. Solche Massnahmen würden nicht ohne ärztliche Verschreibung und Absprache mit den Angehörigen angewandt. 

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