Das ungesühnte Verbrechen
«Historisches Unrecht braucht aussergewöhnliche Antworten»

Der Bundesrat anerkannte im Februar, dass die Schweiz ein Verbrechen an den Jenischen begangen hat. Die Neuenburger Strafrechtsprofessorin Nadja Capus sieht Klagemöglichkeiten.
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«Der Staat sollte nicht länger abwarten, bis einzelne Betroffene klagen, sondern aktiv handeln», sagt Strafrechtsprofessorin Nadja Capus im Interview.
Foto: Mario Cafiso/Universität Neuchâtel, Andy Mueller/KEYSTONE - Montage: Beobachter

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Yves Demuth
Beobachter

Frau Professorin Capus, laut Bundesrat war die Jenischen-Verfolgung ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Die Tatverdächtigen sind indes tot. Kann heute trotzdem noch ermittelt werden? 

Nadja Capus: Ermittlungen sind nur gegen lebende Tatverdächtige möglich, und wenn sie noch leben, ist es juristisch und beweistechnisch komplex.

Angenommen, der Tatverdächtige war ein Staatsangestellter. Haftet dann der Staat? 

Dann ist eine Staatshaftungsklage möglich, ja. Sofern diese Person eine Kantonsangestellte war oder als private Person im staatlichen Auftrag amtlich gehandelt hat. Die Klage richtet sich dann gegen den Kanton für das Versagen seiner Schutzpflichten gegenüber jenischen Bürgerinnen und Bürgern.

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Der verstorbene Schwyzer Schutzaufsichtsbeamte Josef Schelbert war Kantonsangestellter und rühmte sich noch 1995, wie hart er gegen die Jenischen im Kanton vorging. Können Jenische gegen den Kanton Schwyz klagen? 

Zum konkreten Fall kann ich mich nicht äussern, da ich die Unterlagen nicht kenne. Ich kenne aber die Analysen von Historikerinnen über das Wirken von Josef Schelbert. Diese enthalten starke Indizien, dass Josef Schelbert mit seinen Massnahmen gegen jenische Personen und aufgrund seiner Absichten aus strafrechtlicher Sicht den Tatbestand des Völkermords erfüllt haben könnte.

Völkermord? 

Sämtliche rechtswissenschaftlichen Analysen stimmen darin überein, dass genozidäre Handlungen stattgefunden haben. Das besagt auch das Gutachten, auf das sich der Bundesrat stützt. Die heikle Frage betrifft die Absicht. Hier gibt es Uneinigkeit in der Wissenschaft.

Und was bedeutet das? 

Kann eine Zerstörungsabsicht gegenüber den Jenischen nachgewiesen werden, war es Völkermord. Dann gälte, sehr kurz gesagt, die Unverjährbarkeitsregelung auch für die Staatshaftung. Das hiesse, Jenische könnten Klage gegen Kantone einreichen. Ich fände es allerdings skandalös, würden Kantone wie Schwyz sich zurücklehnen und auf Kläger warten oder sich hinter Verjährungsregeln verschanzen, wenn geklagt würde. Das gilt selbstverständlich auch für andere Kantone, in denen derart schwere Verbrechen von Staatsangestellten begangen worden sind.

Was wäre besser? 

Der Staat sollte nicht länger abwarten, bis einzelne Betroffene klagen, sondern aktiv handeln. Historisches Unrecht braucht historisch aussergewöhnliche Antworten. Ein Element könnte sein, dass eine Sonderstaatsanwaltschaft sich in eine Auswahl von Bundesakten, Kantonsakten, Kirchenakten und Klinikakten vertieft. Und diese unabhängig von Verjährungsfragen prüft unter Anwendung des heutigen völkerrechtlichen und strafrechtlichen Verständnisses von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.

Was würde das bringen? 

Auf dieser Basis könnten im Rahmen eines aussergewöhnlichen Tribunals Personen und Institutionen angeklagt und verurteilt werden – ein Schauprozess nach dem Vorbild des permanenten Völkertribunals, das ein Hinschauen ermöglicht, denn weggeschaut wurde lange genug.

Aber ohne echte rechtliche Folgen wie Busse oder Gefängnis? 

Ja – es ist eine Form von Justiz, die hilft, strafprozessrechtliche Elemente zu nutzen, auch wenn die ordentliche Strafjustiz nicht mehr greifen kann. Es gäbe dann Elemente wie Anklageschrift, Anhörung und Urteil, obwohl eigentlich kein Strafverfahren gegen den Staat oder einen Verein geführt werden kann und auch keines gegen Tote.

Reicht historische Forschung nicht? 

Ein öffentliches Tribunal hätte die Wirkung, die es jetzt braucht: Es würde Verantwortung sichtbar machen und das Unrecht deutlich vor Augen führen. Es könnte aber auch eine von mehreren Massnahmen sein.

Der Bundesrat hat im Februar seine Entschuldigung erneuert, die Oberin des katholischen Vereins Seraphisches Liebeswerk in Solothurn zeigte sich jüngst «tief betroffen». Reicht das nicht? 

Natürlich ist es erfreulich, dass es Betroffenheitsbezeigungen gibt. Aber keine einzige Initiative ist ergriffen worden. Ich habe nichts von Unterstützungsangeboten für Betroffene gehört oder von Archivöffnungen, Sonderuntersuchungen, Gesetzesanpassungen oder einer Museumsgründung.

Nur Worte statt Taten? 

Und erst noch beunruhigende Worte: Im Rahmen der Betroffenheitsbekundungen wurde das massive Unrecht gleichzeitig verharmlost und normalisiert. Die Oberin verweist auf den «damaligen Zeitgeist». Und der Bundesrat auf das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981, obwohl dieses Gesetz weder die Begehung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch Völkermord auch nur ansatzweise berücksichtigt.

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