Das sagen Experten zur Fremdbetreuung von Kindern
Wertvoll – aber nicht zu oft und nicht zu früh

Einige Tage Fremdbetreuung sind gut für die Sozialisation und Entwicklung der Kinder. Sagen Experten. Und warnen davor, die Kleinen zu früh und zu häufig in die Kitas zu schicken. Damit werde die Bindungssicherheit gefährdet.
Publiziert: 18.07.2019 um 17:57 Uhr
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Zu Hause oder in der Krippe – Kinder brauchen gleichaltrige Spielgefährten, um sich sozial entwickeln zu können.
Foto: Getty Images
Nico Menzato

Für Verena Herzog (63) ist die Kindererziehung reine Familiensache. «Der Staat soll seine Finger von den Kindern lassen», sagte die SVP-Nationalrätin im BLICK-Interview und begründet damit ihren umstrittenen Vergleich der Krippen- und Verdingkinder.

Doch was ist tatsächlich besser: Mama oder Kita? Über Vor- und Nachteile von Fremd- und Familienbetreuung gibt es Hunderte Untersuchungen und Experten-Meinungen. Unbestritten ist gemäss überwältigender Mehrzahl der Forschungsergebnisse, dass es nicht gut für die Kinder ist, wenn sie den ganzen Tag nur mit den Eltern zusammen sind.

Spielkameraden sind wichtig

«Das Kind braucht für seine Sozialisierung andere Kinder», sagt etwa der bekannteste Kinderarzt der Schweiz, Remo Largo (75). Dass eine Mutter die Kinder allein betreue, gab es in der Geschichte der Menschheit nur ausnahmsweise. «Kinder wurden von Gemeinschaften aufgezogen.» Kinder brauchen also gleichaltrige Spielgefährten, um sich sozial entwickeln zu können.

Besonders schädlich sind die sogenannten Helikoptereltern – überfürsorgliche Väter und Mütter also, die ständig überwachen und behüten. Der renommierte dänische Erziehungsexperte Jesper Juul (71) wählt dafür drastische Worte: «Verwahrlosung, Ignoranz und Desinteresse richten weniger Schaden in Kinderseelen an als jener Narzissmus, der den Nachwuchs glücklich und erfolgreich sehen will.» Verwöhnte Kinder seien in aller Regel unglücklich – und würden dieselben Verhaltensprobleme zeigen wie vernachlässigte Kinder.

Mindestens gleich gute Entwicklung der Kita-Kids

Beim Vergleich zwischen Krippenkindern und Knirpsen, die zwar zu Hause sind, aber von «guten» Eltern und anderen Kindern umgeben sind, wird es schwieriger. Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm (71) fasste die Forschung kürzlich im «Tagesanzeiger» folgendermassen zusammen: Fremdbetreute Kinder würden sich intellektuell ebenso gut oder besser entwickeln, als ausschliesslich zu Hause betreute Kinder. 

Eine Studie aus Deutschland von 2018 ergab etwa, dass Kita-Kinder besser auf die Schule vorbereitet sind. Sie können sich besser ausdrücken und wiesen auch bessere feinmotorische Fähigkeiten auf.

Im Bezug auf das Sozialverhalten gelangten Studien jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen: «Das eine Lager konstatiert, dass Krippenkinder in der Schule sozial kompetenter, selbstbewusster, kooperativer und durchsetzungsfähiger sind, sich weniger zaghaft verhalten und insgesamt kooperativer sind», so Erziehungswissenschaftlerin Stamm. Das andere Lager sehe vermehrt Verhaltensschwierigkeiten und Bindungsstörungen. Demnach können Krippenkinder auch unhöflicher, ungestümer, gereizter und aggressiver sein. Für sie überwiegen jedoch die Vorteile der Kita.

Zu früh und zu oft kann Schäden anrichten

Weitgehend unbestritten ist in der Forschung zudem, dass Eltern ihr Kind nicht zu früh und nicht zu intensiv ausserfamiliär betreuen lassen sollen. «Wenn man ein Einjähriges fünf Tage pro Woche in die Kita steckt, hätte ich meine Bedenken», sagt Stamm. Jesper Juul meint: «Muss ein Kind täglich von sieben Uhr in der Früh bis abends in die Krippe, dann wird es zu einem Zwang. Plötzlich hat das Kind keinen Spielraum, sondern einen Arbeitstag.» 

Der Zürcher Kinderpsychologie-Professor Guy Bodenmann warnt gar vor zu früher Fremdbetreuung: «Ideal für den Start des Krippenbesuchs wäre das Alter von zwei bis drei Jahren.» Denn erst in diesem Alter hätten die meisten Kinder eine sichere Bindung zu ihren Bezugspersonen aufgebaut. «Die Bindungssicherheit ist ein Grundpfeiler für psychisches Wohlbefinden», so Bodenmann. Eine fehlende Bindung hingegen könne später zu psychischen Störungen und Partnerschaftsproblemen führen.

«Bei Kita-Kindern ist die Bindungssicherheit gefährdet»

Professor Oskar Jenni, der die Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich leitet, pflichtete in einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» bei: Aufgrund einer US-Studie wisse man, «dass bei unter 15 Monate alten Kindern, die über zehn Stunden pro Woche in der Kita verbringen, die dort häufige Wechsel erleben oder in altersdurchmischten Gruppen untergebracht sind, diese Bindungssicherheit gefährdet ist».

Auch Regula Keller (58), die Leiterin der Kinderbetreuung der Stadt Zürich, warnt: Obwohl die Kitas alles tun würden, um Reizüberflutung und anderen Stress zu vermeiden, «würden Kinder in einer idealen Welt erst ab zwei bis drei Jahren fremdbetreut».

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