Zur Begrüssung reicht man sich die Hand, haut sich auf die Schulter oder küsst sich auf die Wange. In der Schweiz drei Mal – bei Familienmitgliedern und bei Freunden. Luxemburger tun es offenbar dauernd und eher wahllos, wie der EU-Küss- und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zeigt: Der 60-Jährige nimmt sich in Brüssel alle Frauen zur Brust und an seine Lippen.
Unangenehm jedoch die Nähe des Luxemburgers. Junckers verstörende Kussattacke war Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga sichtlich peinlich. Denn der Gastgeber überschritt die Grenze der Intimsphäre. In der Schweiz beträgt sie ungefähr eine Armlänge, also 60 bis 80 Zentimeter, bei Juncker ist sie gut und gern 20 Zentimeter kürzer.
Die kühle Angela Merkel hat in Sachen Kuss ihre Lehren gezogen und hält ihre politischen Kollegen vornehm auf Distanz, so auch Jean-Claude Juncker.
Die Rolle des Kusses in der Politik lässt sich bis in die Antike zum Philosophen Herodot zurückverfolgen: Damals küsste man sich unter Gleichrangigen auf den Mund – auf die Wange nur bei kleinem Standesunterschied. Im Kommunismus wurde gar aus politischer Taktik auf den Mund geküsst: Das tat 1968 Alexei Kossygin mit Genosse Alexander Dubcek – wenige Tage, bevor er Panzer nach Prag schickte.
Was wird aus dem EU-Hallo-Bussi? Ein Zungenkuss? Oder kommt die Finesse der höfischen Gesellschaft zurück – der elegante Handkuss?
Das «Ich küsse jeden»-Ritual ist eine Unsitte, ob auf politischem Parkett oder im privaten Alltag. Das wäre etwas für eine neue EU-Richtlinie, die die Schweiz automatisch übernehmen sollte: «Jeder Mensch hat das Recht, nicht zu küssen oder ungeküsst zu bleiben.»