Der zweite Wahlgang läuft. Die Spannung steigt. Die Bürger von Montagnola, einem Ortsteil von Collina d’Oro TI, drängen nach vorn an den grossen Screen. Es fehlt eine Minute. Dann steht die Entscheidung fest: Ignazio Cassis wird Bundesrat. Ein Tessiner! Einer von ihnen!
Der Jubel kennt keine Grenzen. In der ersten Reihe steht Gabriella Keller (75). Tränen rinnen über ihre Wangen. «Ich bin so gerührt. Ich freue mich riesig», erzählt die Besitzerin des Hotels Bellevue in Montagnola. «Heute Morgen bekam ich keinen Bissen herunter vor Aufregung. Jetzt hat unser Ignazio es geschafft, und ich bin zutiefst gerührt. Dass einer von uns gewählt wird, wer hätte das gedacht!»
Ein Wermutstropfen bleibt Gabriella Keller: «Ich habe ihn immer beim Joggen getroffen. Jetzt werden wir ihn wohl seltener zu Gesicht bekommen. Er ist ein so freundlicher Mann. Er hat es verdient. Ich freue mich für ihn.»
Maristella Polli (72) reisst die Arme in die Höhe und jubelt aus voller Kehle. Überglücklich sei sie – und: «Sooo stolz, eine Freundin von Ignazio zu sein.» Das zeigt auch die Vorsitzende der FDP in Collina d’Oro gerne. «Endlich hat das Tessin wieder einen Bundesrat», sagt Maristella Polli. «Ich bin froh, dass Ignazios Qualitäten erkannt und gewürdigt wurden.»
«Das Tessin ist leider nie vereint, wenn es wichtig wird»
Auch Parteifreund Davide Foglia (50) streckt allen die erhobenen Daumen entgegen. «Ich bin nicht nur stolz auf unseren Ignazio, sondern auch darauf, dass ich Schweizer bin.» Zufrieden zeigt sich ebenfalls der freisinnige Kollege und Gemeinderat von Collina d’Oro, Pablo Scala (51). «Ich bin sehr, sehr zufrieden mit der Wahl», sagt der Lokalpolitiker und erinnert mit ein wenig Bitterkeit, dass Ignazio Cassis nicht überall im Kanton die nötige Unterstützung fand. «Aber das kennen wir ja schon. Leider ist das Tessin nie vereint, wenn es wichtig wird.»
Das ist vergessen. Tempi passati. Ignazio Cassis hat das Rennen gemacht. Und sein langjähriger Parteifreund Giorgio Cattaneo (51) ist mehr als zufrieden. «Ignazio hat nun eine wichtige Stimme im Bundesrat für das Tessin. Er kann die anderen Bundesräte für unseren Kanton sensibilisieren.» Dann greift der Vize-Gemeindepräsident von Collina d’Oro zum Handy. «Ich versuche, Ignazio zu erreichen, möchte ihm persönlich ganz herzlich gratulieren.»
Auch Haddj Mangili (50) ist ganz aus dem Häuschen. Zum Feiern und Jubeln bleibt der Schulmensa-Köchin allerdings nicht viel Zeit. Sie muss Schampus ausschenken. Die Gemeinde hat 30 Flaschen spendiert. Lange gehalten haben sie nicht.
Public Viewing auch im Heimatdorf Sessa
Nicht nur in Collina d’Oro oder Montagnola, dem Wohnort von Ignazio Cassis, wo er zehn Jahre selber im Gemeinderat sass, knallen die Korken. Auch das 675-Seelen-Dorf Sessa im Malcantone ist ausser Rand und Band. Denn hier wuchs Ignazio Cassis auf. So wurde auch die Piazza in Sessa zur Public-Viewing-Zone, und nach dem zweiten Wahlgang stieg dort ein Volksfest.
Bombenstimmung auch in der Bar Laura. In die Beiz in der Luganeser City hat die örtliche FDP-Sektion, die grösste im Tessin, zu Espresso und Gipfeli geladen. Nur in Bellinzona fliesst kein Champagner. Der grösste Teil der kantonalen Polit-Prominenz reiste nach Bern zum Feiern.
Dafür wurde 26-mal mit einer Kanone Salut geschossen. Alle Kirchenglocken der Kantonshauptstadt läuteten, und von allen öffentlichen und vielen privaten Fassaden und Fenstern wehten Flaggen im lauen Wind.
Nicht zuletzt zeigte sich die Sonnenstube von der Schokoladenseite – mit Sonne und 22 Grad. Welch warmer Empfang für den neuen Tessiner Bundesrat!