Bundeskanzler Walter Thurnherr (58) kritisiert die mangelnde Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft während der Corona-Krise in der Schweiz. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» sagt er, das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft sei in der Schweiz generell zu wenig geklärt und zum Teil angespannt.
Kontakte zwischen beiden Sphären seien rar. «In der Pandemie gab es plötzlich Medienkonferenzen mit Wissenschaftlern, von denen die Politiker nicht einmal wussten, dass es sie gab», sagt Thurnherr, der seit 2016 im Amt ist und nun im Auftrag des Bundesrats das Krisenmanagement des Bundesrats untersucht. Der institutionelle Austausch habe bisher zu wenig funktioniert. «Oft gab es nur zwei Motive der Politik, auf sie zurückzugreifen: Wenn es darum ging, unangenehme Wahrheiten auszusprechen und damit eine Reform zu begründen. Oder um zu bestätigen, was man in der Politik ohnehin gut fand. Dass die Wissenschaft der Politik widersprechen könnte, war hingegen eher weniger vorgesehen.»
Erst Ende März 2020 hat der Bundesrat die wissenschaftliche Covid-Taskforce ins Leben gerufen. Das sei «eindeutig zu spät» gewesen, stellt Thurnherr fest. Der Austausch mit der Wissenschaft müsse «intensiver und institutionalisierter» werden. Darauf werde man bei der Aufarbeitung der Krise Gewicht legen.
Vorbereiten statt auf die Schultern klopfen
Generell hätte die Schweiz früher reagieren können, findet Thurnherr. «Wir hätten besser vorbereitet sein können, denken Sie nur an die Masken oder an die Datenaufbereitung zu Beginn der Krise.» Zudem hätte man auch beim Testen oder Impfen besser sein können. Die Evaluation der Krisenbewältigung werde mehrere Jahre dauern.
Thurnherr gibt zu bedenken, dass die Schwierigkeit sein werde, das Interesse an der Aufarbeitung aufrechtzuerhalten. «Da haben wir in der Vergangenheit nicht immer geglänzt.» In der Schweiz gebe es eine Tendenz zu glauben, weil es einem immer gut gegangen ist, werde es einem immer gut gehen. Das sei jedoch nicht zwingend so. «Wir tun deshalb gut daran, uns auf allfällige nächste Krisen vorzubereiten statt uns auf die Schultern zu klopfen.»
Der Bundeskanzler äussert ausserdem Besorgnis über die Debattenkultur. «Es geht in der direkten Demokratie nicht nur um die Ermittlung der Mehrheit mittels Volksentscheid, sondern auch um den Umgang miteinander zwischen diesen Entscheiden», so Thurnherr. «Das haben noch nicht alle begriffen.» (lha/SDA)