Herr Bundesrat, letztes Jahr gab es Sticheleien zwischen SVP-Bundesrat Albert Rösti und Ihnen. Offenbar gabs ein Versöhnungsessen. Wie kam das zustande?
Beat Jans: Albert und ich verstehen uns sehr gut, auch wenn wir politische Differenzen haben. Nach einem Treffen mit Theres Rösti sagte mir meine Frau: «Wir verstehen uns auch super, lass uns doch mal was zusammen machen.» Wir haben dann in meiner Wohnung in Bern zu einem Fondue eingeladen.
Kam es zu einer Gegeneinladung?
Ja, wir sind zu einem Glas Wein auf die Terrasse eingeladen. Wir freuen uns auf einen lauschigen Sommerabend.
Albert Rösti erhält durch den EU-Deal ein wichtiges Stromabkommen, sein SVP-Kollege Guy Parmelin den Zugang zum Forschungsprogramm Horizon. Die SVP hingegen bekämpft den EU-Deal. Wundern Sie sich über die Kakophonie?
Der Bundesrat ist sehr zufrieden mit dem, was die Verhandlungscrew erreicht hat. Das Verhandlungsresultat stärkt unsere Sicherheit, zum Beispiel im Energiebereich. Es fördert den Handel und damit unseren Wohlstand. Und es stärkt auch unsere Souveränität. Die demokratischen Rechte bleiben gewahrt. Sicherheit, Souveränität, Wohlstand – was will man mehr?
Ein SVP-Mitarbeiter hat sich am Freitag als Aussenminister Ignazio Cassis verkleidet und den Bundesbrief zerrissen. Lebt Politik vom Laientheater?
Uns geht es um die Interessen der Schweizer Bevölkerung und nicht um die Bewirtschaftung von Themen für die eigene Mobilisierung.
Am Ende gehts um Emotionen. Wie wollen Sie die Ängste vor der EU abbauen?
Der Zugang zum EU-Binnenmarkt hat uns Wohlstand gebracht. Mit diesem Vertrag können wir sichergehen, dass das auch in Zukunft der Fall sein wird. Mit dem Paket sichern wir uns den Schlüssel zur EU-Markthalle. Jeder und jede erhält gemäss unseren Studien so durchschnittlich 2‘500 Franken mehr Einkommen.
Mit welchem Wow-Argument möchten Sie das Stimmvolk überzeugen?
Das EU-Vertragspaket ist wie der Rütli-Schwur: Ein gegenseitiges Versprechen in schwierigen Zeiten – mit Partnern, die gemeinsam vorwärtsgehen wollen.
Mit dem Rütli-Schwur provozieren Sie die SVP!
Das ist nicht mein Ziel – das Ziel des Bundesrates ist das Beste für unsere Bevölkerung, insbesondere für die kommenden Generationen. Wir sehen jeden Tag in den Medien, wie unsicher die Welt geworden ist. Umso wichtiger ist es, mit gleichgesinnten Partnern zusammenzuspannen.
SVP-Chef Marcel Dettling war erst am Mittwoch auf dem Rütli – mit einer Hellebarde, um den EU-Vertrag aufzuspiessen.
Die SVP hat keine Deutungshoheit über die Interpretation der Schweizer Geschichte. Im Basler Rathaus zum Beispiel finden Sie Wappenschilder aus dem Jahr 1507 von Glarus, Uri, Luzern und anderen Kantonen mit dem doppelköpfigen Adler des Heiligen Römischen Reiches. Schon die strammen alten Eidgenossen haben Allianzen in Europa geschmiedet, um unsere Interessen zu wahren. Das gehört zur Schweizer Tradition.
Nimmt Donald Trump den EU-Kritikern Wind aus den Segeln?
Trump setzt auf Macht, der Bundesrat auf Verlässlichkeit. Wenn Recht und Verlässlichkeit keine Rolle spielen, schürt das Unsicherheit und Angst. Die EU ist die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz, deshalb sind stabile, rechtlich gesicherte und verlässliche Beziehungen zentral für uns. Die EU steht für Werte wie Demokratie, Rechtssicherheit und Verlässlichkeit.
In den USA wurde einer Schweizerin die Einreise verweigert, sie kam für eine Nacht ins Gefängnis. Alarmiert Sie das als Justizminister?
Ja! Das EDA ist sofort aktiv geworden. Wir können nicht akzeptieren, dass unsere Bürgerinnen und Bürger von den amerikanischen Grenzbehörden so behandelt werden.
Macht Trumps Politik Werbung für die europäische Reisefreiheit?
Schengen ist eine Erfolgsgeschichte: Europa ist dort stark, wo es zusammenwächst. Schengen ist der Raum der Sicherheit und der Freiheit. Die Reisefreiheit fördert den Austausch der Menschen untereinander.
Nennen Sie uns ein Beispiel, wo die Schweiz beim EU-Deal besser verhandelt als gedacht.
Wir haben eine viel griffigere Schutzklausel bekommen als die heutige. Wir können die Zuwanderung begrenzen, ohne den Zugang zum EU-Binnenmarkt zu verlieren. Das ist ein grosser Verhandlungserfolg, der vor einem Jahr noch nicht möglich schien. Unser Chefunterhändler Patric Franzen würde in England dafür zum Ritter geschlagen – er und die ganze Verhandlungsdelegation haben exzellente Arbeit geleistet. Aber unsere Verfassung lässt das nicht zu.
Letzte Woche hat der Bundesrat sich mit alt Bundesräten getroffen. War Christoph Blocher dabei?
Ja, aber ich habe nicht mit ihm gesprochen. Nach meiner Albisgütli-Rede im Januar wollte Herr Blocher meine Rede haben, weil er nachweisen wollte, dass ich nicht recht habe. Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört.
Blocher hat faktenwidrig behauptet, das Bundesamt für Justiz hätte sich früher für ein obligatorisches Referendum ausgesprochen. Was sagen Sie zu dieser Polemik?
Ich äussere mich nicht zu Polemiken eines alt Bundesrates. Seine Haltung in der gleichen Sache hat übrigens schon mal für eine Polemik gesorgt – das war vor 20 Jahren. Herr Blocher war damals Justizminister und für Schengen/Dublin zuständig. Er liess dabei durchblicken, dass er Schengen/Dublin dem obligatorischen Referendum unterstellen würde, gegen die Meinung seiner Experten aus dem Bundesamt für Justiz. Darauf reagierte sein Bundesratskollege Joseph Deiss in einem Blick-Interview. Deiss kritisierte, dass Blocher seinen Experten aus politischen Gründen öffentlich widersprach. Gewisse Geschichten wiederholen sich.
Ist das Gutachten des Bundessamts für Justiz (BJ), das ein einfaches Mehr vorschlägt, ein Auftragsgutachten?
Nein. Das BJ ist das rechtliche Gewissen des Bundes. Ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, ein Auftragsgutachten zu bestellen. Das würde die Glaubwürdigkeit des BJ und meine eigene beschädigen. Das BJ war übrigens immer der Meinung, dass für Schengen/Dublin und jetzt für die Bilateralen III nur das fakultative Referendum zulässig ist.
Was hätten Sie gemacht, wenn das BJ seine Meinung geändert hätte?
Dann hätte ich das akzeptiert. Was übrigens vergessen geht: 2012 gab es eine Volksabstimmung, ob völkerrechtliche Verträge dem doppelten Mehr unterstellt werden sollten. Diese Volksinitiative ist mit 75 Prozent der Stimmen abgelehnt worden. Die Bevölkerung hat sich zu dieser Frage geäussert, wir halten uns daran.
Ihr letztes Interview im Blick sorgte bei der Kompass-Initiative für Empörung. Sie wirft Ihnen vor, statt von 8000 Rechtsakten, die vom EU-Deal betroffen sind, lediglich von 150 Rechtsakten zu sprechen. Nun ist von 95 die Rede. Was stimmt?
Der Bundesrat hat in der Vernehmlassungsvorlage alle EU-Rechtsakte mit Gesetzescharakter, die für die Schweiz relevant sind, aufgelistet. Die Milliardäre der Kompass-Initiative haben das in der Zwischenzeit sicher auch nachgelesen und feststellen müssen, dass sie sich irren. Der Bundesrat hat seinen Kompass nicht verloren.
Die Kompass-Initiative behauptet: Für Schweizer Unternehmen entstehen durch die EU-Regulierung Folgekosten von über 900 Millionen Franken. Stimmt das?
Ich kenne diese Zahlen nicht, aber ich kenne die Zahlen unserer Studien. Und die sind beeindruckend: Die Stabilisierung bringt einen Wohlstandsgewinn bis 2045 von 520 Milliarden Franken. Man kann es nicht genug betonen: Das Paket fördert den Wohlstand und stärkt die Kaufkraft von uns allen.
Welche Fehlinformationen der EU-Gegner stört Sie am meisten?
Die Aussage, dass wir uns angeblich fremden Richtern unterwerfen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben nun abgemacht, wie wir einen Streit lösen. Und wir haben beim Schiedsgericht unseren eigenen Richter, die EU hat ihren Richter. Gemeinsam wählen die beiden einen dritten. Wir sind ein starker, souveräner Partner – auf Augenhöhe mit der EU.
Erklären Sie uns die Schutzklausel.
Wenn die Zuwanderung aus der EU zu ernsthaften Problemen führt, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt oder im Wohnungsbereich, können wir zum Beispiel Kontingente einführen.
Was sagen Sie zur Kritik, die Schutzklausel bleibe zu ungefähr?
Die Schutzklausel ist elastisch und bewahrt die Handlungsfähigkeit der Schweiz, damit wir in jeder Situation angemessen reagieren können. So können wir die Interessen der Bevölkerung schützen. Ich würde wetten: Wenn die Briten das erreicht hätten, gäbe es den Brexit nicht.
Die Menschen haben Angst vor einer 10-Millionen-Schweiz.
Der Bundesrat nimmt solche Ängste ernst. Wichtig ist: Die Menschen kommen, weil wir in unseren Spitälern Ärztinnen brauchen, weil unsere Unternehmen Mitarbeiter brauchen etc. Aber: Wenn das Bevölkerungswachstum zu Problemen führt, nehmen wir das ernst. Der Bundesrat setzt auf eine lösungsorientierte Politik. Die 10-Millionen-Initiative hingegen löst keine Probleme, sie schafft nur Probleme.
Die Mieten steigen und steigen. Die Politik ist machtlos.
Es gibt verschiedene Gründe, weshalb die Mieten steigen. Dort, wo ich als Justizminister handeln kann, mache ich das. Wir wollen zum Beispiel die Lex Koller verschärfen: Das Gesetz soll es ausländischen Personen erschweren, zu viel Wohneigentum in der Schweiz zu erwerben. Und der Bundesrat fördert den gemeinnützigen Wohnungsbau, damit es erschwingliche Wohnungen gibt.
Warum zeigen Sie nicht stärker Kante bei illegaler Migration – um bei der legalen Migration mehr Zugeständnisse zu erreichen?
Der Bundesrat hat bei der Asylpolitik eine klare Haltung: Die Menschen, die unseren Schutz brauchen, bekommen unseren Schutz. Wer kein Recht auf Schutz hat, soll rasch wieder ausreisen. Da sind wir sehr erfolgreich. Aber die Menschenrechte sind für mich nicht verhandelbar. Und wir dürfen nicht vergessen: Die überwältigende Mehrheit der Zuwanderung ist Arbeitsmigration.
Ein krimineller Afghane sollte nach Kabul ausgeschafft werden, durfte dort aber nicht einreisen und kam zurück in die Schweiz. Was ist da schiefgegangen?
Wir dürfen uns nicht zu konkreten Fällen äussern. Aber es kommt immer wieder vor, dass einzelne Rückführungen scheitern. Das kann verschiedene Gründe haben – von medizinischen Vorfällen bis zu Missverständnissen. Wir analysieren dann, woran es gescheitert ist, und suchen eine Lösung, damit diese Rückführungen doch noch vollzogen werden können.
Sie waren kürzlich in Berlin und haben sich beim neuen Innenminister Alexander Dobrindt über dessen Grenzpolitik beschwert. Wie war das Gespräch?
Es war sehr freundschaftlich, direkt und konstruktiv. Ich gehe nach dem Gespräch mit ihm davon aus, dass sich an der Schweizer Grenze nichts ändert.
Betreibt Deutschland zurzeit Symbolpolitik?
Wir haben bei gewissen Fragen unterschiedliche Meinungen. Etwa, was nationale Grenzkontrollen wirklich bringen. Aber wir haben ein grosses gemeinsames Interesse an europäischen Lösungen bei der Migration.
Stichwort europäische Zusammenarbeit: Da gibt es grossen Widerstand der Grünen gegen den Asyl- und Migrationspakt. Das ist auch Ihre Basis. Wie wollen Sie diese überzeugen?
Der Asyl- und Migrationspakt wird in Kraft treten. Wenn wir nicht mitmachen, würden wir zur Schengen-Aussengrenze. Wir wären abgeschnitten von Datenbanken, die für unsere Sicherheit wichtig sind. Wir würden zu einem Magneten für Asylsuchende, die in einem anderen europäischen Land abgewiesen wurden. Und: Wir könnten uns auf europäischer Ebene nicht mehr für die Grundrechte der Flüchtlinge einsetzen.
Zum Schluss: Laufen Sie sich als Aussenminister warm, um Ignazio Cassis zu beerben?
Ich laufe mich nur vor Fussballspielen warm (lacht).