Ausgaben wachsen schneller als Einnahmen
Auf Keller-Sutter wartet ein wilder Ritt

Das abtretende Parlament hat viel ausgegeben. Die Staatsausgaben wachsen schneller als die Einnahmen. Der Spielraum in Bern schrumpft. Die Frage ist, ob das neue Parlament dafür Gehör hat.
Publiziert: 13.10.2023 um 20:54 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 08:52 Uhr
Das Parlament war sehr spendabel in den vergangenen Jahren.
Foto: Keystone
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Andreas Valda
Handelszeitung

Finanzministerin Karin Keller-Sutter (59) sieht schwarz. Noch vor den Sommerferien stand ein riesiges Finanzloch am Horizont: für das kommende Jahr zwei Milliarden Franken und ab 2025 gar drei Milliarden. Unter Finanzloch versteht man, dass die strukturellen Ausgaben die Einnahmen stark übertreffen, sodass der Bund Schulden anhäufen würde. So etwas darf er in normalen Jahren nicht – das gebietet die sogenannte Schuldenbremse. Sie wurde 2001 vom Volk mit 85 Prozent Ja-Stimmen beschlossen. Erlaubt sind neue Schulden nur in einer unvorhersehbaren Lage wie der in der Pandemie.

Inzwischen hat sich Keller-Sutters Prognose verbessert. Die aktuelle Budgetprognose zeigt eine rote Null. Alle Departemente mussten ihr versprechen, die Gürtel enger zu schnallen, am meisten das Wirtschaftsdepartement. Doch die Frage ist: Spielt das neue, im Oktober gewählte Parlament mit? Das definitive Budget wird im Dezember verabschiedet. Spätestens dann dürfte sich mancher Nationalrat die Augen reiben, wie klein der finanzielle Spielraum des Bundes geworden ist.

Immer weniger Spielraum

Das grösste Übel ist laut der Finanzministerin der hohe Anteil der gebundenen Ausgaben. Darunter fallen die Zuschüsse zu den Sozialwerken, zur Bahninfrastruktur, zum Ausbau von Strassen, zur Förderung erneuerbarer Energien und Hochschulen und so weiter. Die Liste ist lang und wird jährlich länger.

Die gebundenen Ausgaben sind in den letzten zwei Wahlperioden massiv gestiegen. Das zeigt die folgende Zahlenreihe:

  • Von 2015 bis 2019 stieg der Anteil von rund 55 Prozent auf 62 Prozent.
  • Beim Antritt des jetzigen Parlaments 2019 bis heute erhöhte sich dieser Anteil auf 64,4 Prozent.
  • Und kommendes Jahr wird er auf 65,7 Prozent ansteigen.

Mit anderen Worten: Bald zwei Drittel des 83 Milliarden Franken schweren Bundesbudgets ist fest verplant, und Schulden machen ist in normalen Jahren verboten.

Allein die AHV kostet 10 Milliarden

Wie erklärt sich dieser Anstieg? Am meisten verschlingt die AHV. Kommendes Jahr tritt die AHV-Reform 21 in Kraft. Die beschlossenen Steuermehreinnahmen (plus 1,2 Milliarden Franken) fliessen direkt ins Sozialwerk. Der Bund muss zusätzliche 300 Millionen jährlich abdrücken. Das Werk, das ursprünglich über die Lohnbeiträge hätte finanziert werden sollen, kostet den Bund nun 10,3 Milliarden Franken jährlich. Tendenz steigend.

Immer teurer sind auch die Invalidenversicherungen (+100 Millionen) und die Prämienverbilligungen des Bundes (+300 Millionen). Letztere steigen automatisch und prozentual zu den Krankenkassenprämien. Diese fixen Ausgabenblöcke kosten jährlich zwischen drei und vier Milliarden Franken. Stark am Wachsen sind auch die gebundenen Ausgaben zur Förderung der erneuerbaren Energien und weitere Klimavorhaben mit knapp drei Milliarden Franken.

Manche fixe Budgetposten hat das Parlament in Fonds gesteckt, um sie dem Rotstift der Finanzministerin zu entziehen. Wollte sie diese Budgetposten kürzen, müsste sie sich jedes Mal einer Volksabstimmung stellen.

«Immer mehr Aufgaben des Teufels»

Was die Finanzministerin von dieser fixen Ausgabefreude hält, sagte sie kürzlich in einem «NZZ»-Interview: «Dass man immer mehr Aufgaben beschliesst, immer mehr Gesetze erlässt, die sich ja in der Komplexität ständig überbieten, das ist des Teufels.»

«Des Teufels» ist der Trend, weil er den Spielraum des Bundesrats und des Parlaments immer mehr einschränkt. Ein Beispiel ist die Rüstung. Im Zuge des Ukraine-Kriegs bemerkte das Parlament, dass es die Armee in den vergangenen zwei Jahrzehnten praktisch tot gespart hatte. Das Betteln der Ukraine um Munition, Raketen und Flugzeuge machte die Lücken auch hierzulande offensichtlich.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.

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Also beschloss das Parlament, das Armeebudget aufzustocken. Zuerst sollten für das kommende Jahr 600 Millionen Franken dazukommen. Die Absicht war, diesen Betrag bis 2030 auf jährlich 1,7 Milliarden Franken aufzustocken – als ein Prozent des Bruttoinlandprodukts, wie es andere tun.

Doch dann kam Keller-Sutter und sagte den Befürwortern, das gehe nicht wegen der Schuldenbremse. Der Wiederaufbau der Wehrbereitschaft müsse sich gedulden. Jetzt sind es bloss die Hälfte der versprochenen Gelder fürs kommende Jahr und gleich viel wie zuvor.

Warum die bürgerliche Bundesrätin ihren bürgerlichen Ratskollegen in die Parade fuhr, erklärt sie im erwähnten «NZZ»-Interview so: «Ich bin mittlerweile so realistisch, dass ich vor allem gegen neue gebundene Ausgaben kämpfe.»

Sündenfall Kita-Finanzierung

Ein solches Kampfgebiet dürfte die neue Kindertagesstätten-Finanzierung sein. Das Anliegen ist gesellschaftlich wenig bestritten – auch nicht von Keller-Sutter –, aber diese Finanzierung gehört nicht in den Bundeshaushalt. «Man vergisst, dass das eine Kantonsaufgabe ist», sagte sie.

Der Fehler passierte 2003. Das Parlament schaffte damals eine befristete «Anschubfinanzierung» zur Schaffung von Kindertagesstätten. Diese wurde mehrmals verlängert und läuft 2024 aus.

Jetzt will das Parlament dieses Provisorium – gegen den Willen des Bundesrats – zur definitiven Aufgabe umwandeln. Kostenpunkt: 800 Millionen Franken jährlich. Ob es dazu kommt, wird das nächste Parlament entscheiden. Es wäre eine neue gebundene Ausgabe. Keller-Sutter beklagt, dass das Parlament es erlaubt, laufend mehr Kosten von den Kantonen zum Bund zu übertragen. Stichwort Zentralisierung. Sollte die Kita-Finanzierung dazukommen, wäre der Spielraum fürs neue Parlament noch mal kleiner. Momentan beträgt das Finanzloch fürs Jahr 2025 1,2 Milliarden Franken.

So trickst man die Schuldenbremse aus

Der Trend zu gebundenen Ausgaben verleitet das Parlament zu schäbigen Tricks. Ein solcher Trick ist, gewisse Ausgaben als unvorhersehbar abzustempeln. So können die Schuldenbremse ausgehebelt und die Schulden erhöht werden.

Es gibt zwei aktuelle Beispiele: die Teilsanierung der SBB und die Kosten für die Ukraine-Flüchtlinge. Das Parlament schob kürzlich 1,15 Milliarden Franken den SBB zu, um ihnen das 11-Milliarden-Schuldenloch zu verkleinern. Eine Mehrheit von Mitte-Links erklärte die Ausgabe für «unvorhersehbar und nicht steuerbar», so konnte sie die Schuldenbremse umgehen.

Die Bauernlobby im Parlament – rund 35 Leute aus allen Parteien – erklärte, dass sie mit dem SBB-Deal einverstanden sei, sofern man auch das Agrarbudget nicht kürze. Darauf reagierten die Rüstungsbefürworter pikiert. Wenn man den SBB die Schulden als «unvorhersehbar und nicht steuerbar» tilge, dann müsse das auch für die Aufrüstung gelten, denn der Ukraine-Krieg war nicht vorhersehbar.

Durchgekommen sind sie zwar nicht. Doch die Ausgaben für die Ukraine-Flüchtlinge (1,2 Milliarden Franken) wurden als unvorhersehbar erklärt und damit an der Schuldenbremse vorbeigeschmuggelt.

Kommendes Jahr steigt die Verschuldung um 2,5 Milliarden auf 142,5 Milliarden Franken. Wenn das so weitergeht, dürfte die nächste Wahlperiode finanzpolitisch zum wilden Ritt verkommen. Keller-Sutter hat allen Grund, schwarzzusehen.

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