Heute befindet der Nationalrat über die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule». Rechtskonservativen Kreisen ist der obligatorische Sexualkunde-Unterricht ein Dorn im Auge. Den wollen sie deshalb beschränken.
«Sexualerziehung ist Sache der Eltern», so die Kernforderung der Initiative. Freiwilliger Sexualkundeunterricht darf erst ab dem vollendeten 9. Altersjahr erteilt werden. Obligatorischer Unterricht «zur Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung» darf gar erst ab dem vollendeten 12. Altersjahr erteilt werden. Und das nur vom Biologielehrer.
Die Initianten machen zudem klar, dass «Kinder und Jugendliche nicht gezwungen werden können, weitergehendem Sexualkundeunterricht zu folgen».
Das Thema bewegt: 29 Nationalräte haben sich in die Liste der Einzelredner eingetragen! Eine emotionale Debatte und rote Köpfe sind garantiert!
«Wirkung des Sexualkundeunterrichts wird überschätzt»
Dabei könnte das Parlament die Thematik viel ruhiger angehen, denn: «Die Wirkung des Sexualkundeunterrichts wird überschätzt. Und zwar von den Gegnern und Befürwortern», sagt Kinderpsychotherapeut Allan Guggenbühl in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger».
Er betont: «Die Vorstellung, dass Kinder ihre Einstellung zur Sexualität dank schulischer Aufklärung markant verändern, ist naiv.»
Guggenbühl spricht von zwei Ebenen der Sexualität: die objektive und die subjektive. «Zu den objektiven Fakten gehören die Geschlechtsteile, der biologische Akt der Fortpflanzung und so weiter. Sexualität ist jedoch vor allem ein subjektives Erlebnis: Fantasien und Emotionen steigen auf, ein Begehren wird geweckt. Das beschäftigt die Menschen.»
«Sexuelle Fantasien sind etwas Natürliches»
Kinder würden sich schon im Kindergarten für Sexualität zu interessieren beginnen, führt Guggenbühl aus. «Sie haben sexuelle Fantasien, Emotionen, Wahrnehmungen oder werden erotisiert. Das ist etwas Natürliches, das man nicht problematisieren sollte.»
Allerdings sei Sexualität ist etwas sehr Privates. Kinder würden ihre subjektive Sexualität nicht mit einer fremden erwachsenen Person teilen, erklärt Guggenbühl. «Die eigenen Emotionen oder Fantasien will man nicht im Unterricht thematisieren. Meistens hält man sie gegenüber der Lehrperson und vor allem gegenüber externen Aufklärungsexperten zurück.»
Wichtig sei aber, dass den Kindern in der Schule eine Haltung vermittelt werde: «Sexualität ist vielfältig. Auch Homosexualität ist normal. Wichtig ist zudem, dass auf Missbrauchsgefahren hingewiesen und das Recht, sich zu wehren, thematisiert wird», so Guggenbühl.
Keine fixe Unterrichtsstunde
Er würde aber keine fixe Stunde für den Sexualkundeunterricht einrichten, in der man dann «darüber» sprechen müsse. «Das nehmen Kinder als ‚komisch’ wahr.» Stattdessen solle bei passender Gelegenheit Wissen über Sexualität vermittelt werden.
«Ist das Thema präsent, kann man eine Geschichte lesen, die Verliebtheit oder Sexualität auf indirekte Weise anspricht. Durch das Interesse an der Geschichte bringen sich die Kinder selber ein und können so etwas über sich preisgeben, ohne die Schamgrenze zu übertreten.»
«Hilfloser Versuch»
Von der Sexualkunde-Initiative selbst hält Guggenbühl nicht viel. «Die Initianten fürchten sich vielleicht vor der Unberechenbarkeit der Sexualität», analyisert er. «Ihre Verbotsinitiative ist der hilflose Versuch, eine Diskussion über die Sexualität der Kinder abzublocken.» (rus)