Sprachforscherin Andrea Hunziker Heeb
«Politisch lässt sich Sprache nur bedingt regulieren»

Eine Volksabstimmung über den Sprachgebrauch sei nur wenig sinnvoll, sagt die Sprachwissenschaftlerin Andrea Hunziker Heeb von der ZHAW. Am 24. November entscheidet das Zürcher Stimmvolk über die Abschaffung des Gendersterns in amtlichen Dokumenten.
Publiziert: 12.11.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2024 um 15:49 Uhr
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Andrea Hunziker ist Sprachwissenschaftlerin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften am Departement für Angewandte Linguistik.
Foto: MALLAUN PHOTOGRAPHY

Auf einen Blick

  • Sprache reflektiert und prägt die Werte einer Gesellschaft
  • Genderstern als Antwort auf das Bedürfnis nach Inklusivität
  • In früheren Texten wurden Frauen nur 'mitgemeint'
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Dennis BaumannRedaktor Gesellschaft

Sprachgebrauch als Thema an der Urne: Das hat es noch nie gegeben. Wie Sprachwissenschaftlerin Andrea Hunziker Heeb (58) von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW sagt, sei es aber nicht neu, dass Sprache ein Politikum ist. Sechs Fragen an die Forscherin am Departement für Angewandte Linguistik.

Frau Hunziker Heeb, erstmals in der Geschichte der Menschheit stimmt das Volk über den Sprachgebrauch ab. Wie ordnen Sie das ein?
Hunziker Heeb: Ob Ihre Aussage «erstmals in der Geschichte …» stimmt, kann ich nicht beurteilen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist eine politische Abstimmung zum Sprachgebrauch nicht wirklich sinnvoll. Sprache ist lebendig und verändert sich andauernd, auch unabhängig von irgendwelchen Verboten. Sprache widerspiegelt stets die Werte einer Gesellschaft, und umgekehrt prägt die Sprache unsere Werte. Die Einführung des Gendersterns ist eine Antwort auf das gesellschaftliche Bedürfnis, alle Personen sichtbar zu machen. Er ist nur eine von vielen sprachlichen Möglichkeiten, das zu tun. Als Gesellschaft ist es wichtig, zu verhandeln und herauszufinden, wie wir mit Sprache unser Anliegen abbilden, niemanden zu diskriminieren und der ganzen Gesellschaft Teilhabe zu ermöglichen. Dabei erfüllen Sprachleitfaden durchaus ihren Zweck. Sie dienen zur Orientierung und zeigen auf, wie die Sprache inklusiver gestaltet werden kann.

Gab es auch in früheren Zeiten schon sprachliche Veränderungen, die mit dem Zeitgeist zu tun hatten?
Ja, das war schon immer so. Eine veränderte gesellschaftliche Realität drückt sich auch in der Sprache aus oder die Sprache drückt eine veränderte gesellschaftliche Realität aus. Ein Beispiel ist die Abschaffung des generischen Maskulinums im Zuge der Gleichberechtigung der Frauen. Früher war es in Texten üblich, nur Männer zu nennen. Frauen wurden nur mitgemeint. Das funktionierte nicht. Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen stets prüfen mussten, ob sie tatsächlich auch gemeint waren. Zudem zeigte sich klar, dass Personen beim Verstehen und Interpretieren solcher Texte Frauen gar nicht mitdachten. Das hatte für Frauen reale Konsequenzen. So zeigte sich zum Beispiel bei Stellenausschreibungen, dass sich weniger Frauen bewarben, wenn sie nicht explizit genannt wurden. Die Mitgemeinten, aber nicht tatsächlich erwähnten, wurden also diskriminiert. 

Entwickelt sich die Sprache aktuell schneller als in früheren Jahrzehnten oder Jahrhunderten?
Seit der Globalisierung hat sich der Sprachwandel beschleunigt. Wir kommunizieren mehr, weil wir vernetzter sind und Zugriff auf globale Inhalte haben. Dadurch ändert sich auch die Sprache. Das erkennen wir etwa daran, dass zunehmend Begriffe aus anderen Sprachen in unser Vokabular einfliessen.

Kann man Sprache überhaupt politisch regulieren?
Politisch lässt sich das nur bedingt regulieren. Solange eine Sprache gesprochen wird, verändert sie sich stetig. Man kann zwar versuchen, die Sprache zu regulieren oder gewisse Aspekte zu verbieten, aber die Sprache wird sich immer weiterentwickeln. Sprachliche Neuerungen brauchen Zeit oder etablieren sich je nach veränderter Realität – zum Beispiel durch eine Pandemie – sehr schnell. Auch unterscheidet sich die Sprache je nach Kulturregion. Das sehen wir zum Beispiel an den Helvetismen und daran, dass wir in der Schweiz das Eszett nicht mehr nutzen.

Was, wenn Verwirrung entsteht, wie beispielsweise beim Genderstern?
An sprachliche Neuerungen gewöhnt man sich, das zeigen Untersuchungen. Die Verständlichkeit leidet nicht darunter. Das hat man auch beim Genderstern herausgefunden. Personen, die die Texte lesen, gewöhnen sich daran und sind auch eher bereit, den Genderstern selbst zu gebrauchen. Das heisst, sie verstehen die Texte.

Wurde Sprache schon immer politisiert?
Sprachgebrauch als Politikum ist nichts Neues. So wurden zum Beispiel in der DDR gewisse Begriffe eingedeutscht, um sich gegenüber der BRD abzugrenzen. Wir brauchen Sprache, um zu kommunizieren, was ein menschliches Grundbedürfnis ist. Wir brauchen Sprache damit automatisch für unsere Zwecke, weil wir beim Gegenüber etwas bewirken möchten. Das macht sich auch die Politik zunutze, was wir auch in der Schweiz zum Beispiel vor jeder Abstimmung oder Wahl sehen. Mit Sprache können wir Menschen diskriminieren, ausschliessen, stereotypisiert darstellen oder sogar entmenschlichen. Mit Sprache können wir aber auch Menschen auf Augenhöhe ansprechen, miteinbeziehen und an der Gesellschaft teilhaben lassen.

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