Frau Abramović, Sie sind in einem serbisch-orthodoxen Umfeld aufgewachsen, wo Ikonen eine wichtige Rolle spielen. Die Schweizer Politikerin Sanija Ameti hat auf ein Bild von Maria und Jesus geschossen. Was halten Sie davon?
Marina Abramović: Zunächst einmal: Ich mag die Kirche nicht. Ich mag keine Religion. Ich mag Spiritualität. Aber ich bin gegen jegliche Art von Gewalt, weil sie schrecklich ist und verurteilt werden sollte. Es gibt keinen Grund dafür, auf dieses Bild zu schiessen. Was ist das für eine uninteressante Art, auf sich aufmerksam zu machen!
Was wäre interessanter?
Überhaupt nicht auf sich aufmerksam zu machen! Die Arbeit und der Inhalt müssen für sich sprechen! Was ist der Inhalt dieser Aktion? Es gibt keinen Inhalt. Nur die Reaktion der Presse. Das geht für mich in die gleiche Richtung, wie einen Rembrandt zu bespucken oder einen van Gogh zu beschädigen. Diese Art von Leuten mag ich nicht.
Sie sprechen von Klimaaktivisten?
Ja, das ist doch alles Schwachsinn. Lasst die Kunst in Ruhe! Die Kunst wurde für Menschen geschaffen, um sie zu geniessen, nicht um zerstört zu werden.
Wollen wir über Sex reden?
Ja, bitte, was wollen Sie wissen?
Ihre Ausstellung beginnt mit zwei nackten Menschen am Eingang. Warum spielt in der Zürcher Ausstellung Erotik keine Rolle – obwohl Sie durchaus Sex thematisieren?
Mein neues Projekt, «Balkan Erotic Epic», ist sehr erotisch. Es beschäftigt sich mit heidnischen Bräuchen aus Ländern wie Albanien, Bulgarien, Mazedonien, der Türkei und Teilen Griechenlands. Männliche und weibliche Geschlechtsorgane werden eingesetzt, um sich mit dem Universum und den Geheimnissen des Lebens zu verbinden. Ich will beweisen, dass wir diese Rituale in einem neuen Licht sehen müssen und sie viel bedeuten.
Was bedeuten sie?
Sie haben nichts mit dem Dreck zu tun, den wir Pornografie nennen. Ich werde mit viel Humor diese Rituale rekonstruieren. 120 Leute werden tanzen und singen. Und weil unsere Gesellschaft Nacktheit nicht ertragen kann, wird es richtig skandalös.
Warum mögen Sie keine Pornografie?
Pornografie langweilt mich. Es ist immer die gleiche Scheisse. Die einzige interessante Frau in der Pornografie war Cicciolina. Wissen Sie, wer sie ist?
Nein.
Cicciolina war Pornostar und Abgeordnete im italienischen Parlament. Und sie war mit dem Künstler Jeff Koons verheiratet. Sie ist einfach unglaublich. Sie drehte wirklich interessante Pornofilme, die meistens mehr Kunst als Porno waren.
Sie haben mit vielen Promis zusammengearbeitet, zum Beispiel mit Lady Gaga. Wie war das?
Es war keine Zusammenarbeit. Sie kam zu mir, um meinen Workshop zu besuchen. Ich liess sie fünf Tage lang nichts essen und Übungen machen. Danach sagte sie, es habe ihr gutgetan. Sie war eine gute Schülerin. Werden Sie mich als Nächstes nach Jay-Z fragen?
Nein, nach Taylor Swift.
Wer?
Taylor Swift.
Ich höre ihre Musik nicht, tut mir leid. Ich höre nur klassische Musik. Und ich mag Anohnis Musik (Die beiden haben schon mehrfach zusammengearbeitet, Anm. d. Red.).
Sie haben einmal gesagt: «Kunst kann nur in zerstörten Gesellschaften gemacht werden, die wieder aufgebaut werden müssen.»
Habe ich wirklich solche dramatischen Sachen gesagt?
Ja. Ist die friedliche Schweiz ein Albtraum für Kunst?
Es ist schwierig, Kunst zu machen, wenn man glücklich ist. Das tut niemand. Man muss eine Art Tragödie, eine schlimme Kindheit gehabt haben oder so richtig in der Scheisse stecken. Dann macht man Kunst. Glück ist ein Zustand, den man nicht ändern möchte.
In den 1980er-Jahren waren Sie für ein Projekt auf dem Furkapass. Sie fanden die Schweiz damals nicht besonders spannend …
Weshalb wollen Sie über Negatives sprechen? Jetzt atmen wir mal tief durch.
Was mögen Sie an der Schweiz?
Pünktlichkeit ist eine gute Eigenschaft, weil man die Zeit des anderen respektiert. Die Lebensqualität ist hoch. Und ich habe das Gefühl, dass hier alles voller Geheimnisse ist: Es gibt Zünfte, Freimaurerlogen. Leider hatte ich nie die Zeit, herauszufinden, wie die Menschen in der Schweiz gestrickt sind.
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Letztes Jahr hatten Sie eine Nahtoderfahrung. Wie hat Sie diese verändert?
Ich hatte nicht nur ein Aneurysma, sondern im August auch Gesichtskrebs – das war wirklich schlimm. Aber mir geht es gut. Wissen Sie, ich bin von allem so begeistert. Ich weiss einfach, dass ich mehr arbeiten muss, um noch alles zu schaffen, was ich will. Das Einzige, worüber ich mir Sorgen mache, ist, wie viel Zeit ich noch habe. Denn ich liebe das Leben.
Das Leben ist aber auch brutal. Zu Beginn von Putins Angriff auf die Ukraine haben Sie Putin kritisiert. Welche politische Verantwortung haben Sie als Künstlerin?
Ich habe auf dem Glastonbury Festival in England 250’000 Menschen dazu gebracht, sieben Minuten zu schweigen – gegen Krieg und Gewalt und für Liebe. Das Video wurde von 1,1 Milliarden Menschen weltweit gesehen. Das kann ich als Künstlerin tun. So bin ich politisch.
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Davon lässt sich Putin aber nicht beeindrucken.
Was kümmert mich Putin? Ich bin Künstlerin. Das ist das, was ich tun kann. Und wenn Sie über Politik reden wollen, sollten Sie Putin, Trump oder Kim Jong Un interviewen!
Das Interview ist Marina Abramović zumindest für ein paar Stunden in Erinnerung geblieben. Am Donnerstagabend lästerte sie auf einer Party im Kunsthaus Zürich über Journalisten, die nach Sex und Putin fragen. Und dann erzählte sie einen Witz über Putin und gab damit eine weitere Antwort darauf, wie eine Künstlerin politisch sein kann.