Pfarrer Daniel Hubacher über offene Beizen – und geschlossene Kirchen
«Das leuchtet mir nicht ein»

Zurzeit käme Pfarrer Daniel Hubacher in der Stadtberner Nydeggkirche kaum zur Ruhe. Denn im Mai beginnt traditionell die Konfirmationssaison. Doch dieses Jahr ist bekanntlich vieles ganz anders, und die Coronakrise macht auch vor der Kirchentür nicht halt.
Publiziert: 24.05.2020 um 23:40 Uhr
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Pfarrer Daniel Hubacher während seiner Osterpredigt, die auch auf Tele Bärn ausgestrahlt wurde. zvg
Foto: Daniel Rytz/Rytz TV
Interview: Jean-Claude Galli

Noch eine Woche muss sich Pfarrer Daniel Hubacher (54) von der Stadtberner Kirchgemeinde Nydegg gedulden, bevor am Pfingstsonntag wieder eine öffentliche Predigt möglich ist. Im Interview erzählt er, wie sich der Glaube und die kirchlichen Rituale während der Corona-Krise verändert haben.

«Rufen Sie uns an, wenn Ihnen die Decke auf den Kopf fällt», heisst es auf der Nydegg-Homepage. Rufen viele Menschen an?
Daniel Hubacher: Kaum jemand. Das überrascht mich nicht, denn anzurufen und zu sagen, mir geht es nicht gut, ist schwierig. Mit Schmerzen zur Ärztin geht man leichter als mit Sorgen zum Seelsorger. Manche wenden sich vermutlich direkt an die Dargebotene Hand, weil dort die Anonymität gewährleistet ist. Es hat immer auch mit Scham zu tun, sich irgendwo zu melden und zu sagen, mir geht es nicht gut. Wir verschicken «Sonntags-Proviant», eine Art Ersatz für die Predigt. Dieser dient oft als Türöffner für Telefongespräche. Einmal in der Woche etwas im Briefkasten zu haben, das schätzen die Menschen. In manchen Kirchgemeinden haben die Mitarbeitenden systematisch Leute ab 65 Jahren angerufen und sich nach ihrem Befinden erkundigt. Das hätten wir in normalen Zeiten nicht getan und uns vielleicht auch nicht getraut. Jetzt haben wir eine Legitimation und finden den Mut.

Was macht das Virus schwieriger an Ihrer Arbeit?
Man kann vor Ort nichts teilen. Sonst können wir in schwierigen Zeiten jeweils zusammensitzen. Schon nur der Kirchenkaffee nach der Predigt ist enorm wertvoll. Dies alles fällt weg, auch die Gänge ins Altersheim. Jetzt war lange nur telefonische 1:1-Betreuung möglich. Mit der Öffnung gibt es auch wieder erste vorsichtige Begegnungen, zum Beispiel draussen auf dem Gartensitzplatz, mit dem nötigen Abstand.

War es gut, länger mit dem Öffnen der Kirchen zu warten als in anderen Bereichen?
Mir leuchtet nicht ein, warum man schon in die Beiz darf, aber noch nicht in die Kirche. Schliesslich sind unsere Räume in der Regel gross. Und der Wunsch von Menschen nach Gottesdienstgemeinschaft auch. Andererseits verstehe ich, dass der Bundesrat Prioritäten setzen und sich gut überlegen muss, für wen er das Veranstaltungsverbot lockert. Der Vorteil der jetzigen Situation ist: Wir können von den andern lernen und unser Konzept anpassen. Wir dürfen uns auch keine Illusionen machen: Auch nach Pfingsten wird es nicht so sein wie vorher. Die Schutzkonzepte für die Gottesdienste mahnen zur Vorsicht beim Singen und auch zur zeitlichen Beschränkung. Und eine Abendmahlsfeier mit einem Gemeinschaftskelch wird es wohl noch lange nicht geben. Die Abstandsregel bringt unser Kirchengebäude zum Schrumpfen. Wo früher locker 300 Menschen Platz fanden, werden wir vorläufig bloss 80 Personen empfangen dürfen.

Nun würde auch die Konfirmationssaison beginnen. Wie gehen Sie hier vor?
Es gibt verschiedene Lösungen: Einzeltermine, virtuelle Feste etc. Wir verschieben unsere Termine in den August. Unser Argument war: Eine Konfirmation lebt davon, dass alle kommen können. Die Konfirmation ist ein Familienfest. Manche der Jugendlichen in meiner Konfirmandenklasse rechnen mit 30 Gästen. Zudem ist er mir wichtig, dass die Jugendlichen die Feier der Konfirmation wesentlich mitgestalten. Es gibt Kirchgemeinden, die darum den Konfirmationstermin gleich um ein ganzes Jahr verschoben haben.

Und wie sieht es bei den Beerdigungen aus?
Beerdigungen im Familienkreis waren immer möglich. Ich hatte in den letzten Wochen wenige Beerdigungen, heute die erste seit langem. Ich glaube auch, dass die Bestattungsunternehmen, die die Beerdigungen organisieren, bloss dezent darauf hinweisen, dass es für den Abschied eine Ausnahme vom Versammlungsverbot gibt. Das ist für mich eine Blackbox: Ich weiss nicht, warten da viele Urnen in den Häusern, und bald kommen Leute und sagen: Wir hätten da noch wen? Oder gab es bereits viele Bestattungen im engsten Kreis? Ich bin gespannt, wie viel später nachgeholt wird. Dann müssen wir mit den Angehörigen neue Formen suchen. Man kann nach Monaten keine Abdankung mehr abhalten, das wird dann eher eine Art Gedenkfeier. Im Vordergrund steht vermutlich weniger der Trennungsschmerz, sondern mehr das Erinnern und die Frage nach dem Umgang mit der entstandenen Lücke.

Ganz grundsätzlich: Warum sucht uns dieses Virus heim?
Meine erste spontane Reaktion lautet: Fragen Sie doch eine Wissenschaftlerin und nicht den Pfarrer. Biologische Erklärungsmodelle sind im Moment plausibler als theologische. Und dann habe ich als Nächstes die Vermutung, Sie möchten von mir eine steile These hören wie: Das Virus ist eine Prüfung, die Gott schickt. Oder gar: eine Strafe. Ich bin da sehr vorsichtig, in einer Situation, die wir nicht wirklich deuten können. Wir fischen alle im Trüben. Diese Ohnmacht gilt es vorerst mal auszuhalten. Und dann ermuntert uns die Bibel dazu, die Ohnmacht zu teilen mit Gott, ihm unsere Fragen, Sorgen und Hoffnungen ans Herz zu legen. Da gehört die Warum-Frage gewiss auch dazu. Aber von Gott her eine Antwort zu geben, so als könnten wir Gott über die Schulter schauen, finde ich anmassend. In der Bibel gibt es schon Stimmen, die es wagen, die Zeichen der Zeit zu deuten: Propheten, Visionäre, Menschen mit einem besonderen Blick für Zeitzeichen. Aber selbst sie sind vorsichtig. Und sie wenden sich jeweils an einen konkreten Adressatenkreis.

Wie gehen Sie selber damit um?
Ich finde es wichtig, bewusst wahrzunehmen, was die Krise bei mir selbst auslöst und was sie in der Gesellschaft in Gang setzt. Uns allen passiert zurzeit etwas. Und wir müssen uns dazu verhalten, als Einzelpersonen und als kleinere oder grössere Lebensgemeinschaften. Plötzlich sind Fragen auf dem Tisch sind, die wir bisher umschiffen konnten. Was ist ein Leben wert? Und: Hält mein Lebensvertrauen in dieser Krise? Ich selbst bin privilegiert, habe keine kleineren Kinder, die ich unterrichten muss, und kein Geschäft, um das ich bange. Ich kann meine Kräfte dafür einsetzen, kreative Formen des kirchlichen Lebens zu gestalten in der aussergewöhnlichen Situation.

Was können Sie daraus lernen?
Im Zentrum steht für mich eine neue Grunderfahrung: Wir haben das Leben viel weniger im Griff, als wir meinen. Dass plötzlich so ein kleines Ding, das man von blossem Auge nicht sieht, die ganze Welt lahmlegt, das ist enorm einschneidend, das habe ich noch nie erlebt. Und was machen wir nun daraus? Viele haben in den letzten Wochen gelernt, Hilfe anzunehmen. Fitte Senioren haben sich damit angefreundet, dass andere für sie einkaufen. Nachbarn haben entdeckt, dass sie füreinander wichtig sind. Und wir haben einander sorgfältiger nachgefragt. Mich freut diese Qualität in zwischenmenschlichen Beziehungen. Und ich hoffe, dass wir etwas von dem bewahren können. Als Kirche wollen wir mithelfen, das Gute, das entstanden ist, zu hüten und zu kultivieren.

Haben Sie auch Kontakt mit Menschen, die die Existenz von Corona anzweifeln?
Bisher habe ich noch kein Gespräch geführt mit jemandem, der behauptet, Corona gebe es nicht. Aber mir begegnen unterschiedliche Meinungen zu den verordneten Massnahmen, dramatisierende, verharmlosende, ausschweifende, besorgte, vertrauensvolle. Mit Menschen, die ihre klaren Theorien haben, ist es oft schwierig, in einen Dialog zu kommen. Ich finde: Wahrheitssuche muss immer dialogisch sein. Und so hat es mich gefreut, als neulich der BAG-Experte Daniel Koch sagt: Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Jede Deutung, ob sie von der Biologie, von der Theologie oder von einer anderen Denkvoraussetzung kommt, muss bereit sein, sich hinterfragen zu lassen. Insofern empfinde ich das nicht als Verlust, dass die Kirche nicht mehr die Deutungshoheit in der Gesellschaft hat. Sie kann trotzdem einen wichtigen Beitrag zum Dialog liefern. Spannend ist allerdings in der Krise zu beobachten, wem man Deutungshoheit zugesteht: Sind es die Expertinnen und Experten? Oder sind es die Moderatoren des Schweizer Fernsehens (lacht)? Im Grunde genommen ist es ja erfrischend, wenn sich kritische Stimmen melden. Aber wenn ihr Gegenentwurf nicht hinterfragbar ist, wird es schwierig.

Manche Leute attestieren dem Virus etwas Diabolisches. Was sagen Sie dazu?
Vielleicht wäre es sinnvoller, anstatt metaphysische Antworten zu suchen, zuerst einmal unseren Lebensstil zu hinterfragen. Zu schauen: Ist nicht manches erklärbar durch die Art, wie wir in einer modernen Gesellschaft reisen, essen und leben? Für mich geht es nicht auf, höhere Mächte zu bemühen, wenn natürliche Erklärungen vorliegen. Viren und Bakterien gehören zur Natur. Wir sind in der Medizin auf einem Stand, der uns glauben lässt, man könne gegen alles etwas tun. Nun ist erschreckend: Gegen Corona gibt es noch kein Mittel. Das ist einschneidend für unser Selbstverständnis und erschüttert uns in unserem Fortschrittsglauben.

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