BLICK: Herr Heiniger, was sind Sie für ein Mensch?
Tinu Heiniger: Ich bin bedächtig. Auch skeptisch. Ich betrachte die Welt aus Distanz. Ich bin ein wenig wie ein Emmentaler Bauer, der sein Land und seine Tiere kennt, der sagt, «ja, ja, schon recht, ihr könnt mir viel von der Welt berichten, aber hier weiss ich, wie es läuft.» Diese Sturheit ist beim Liedermachen hilfreich.
Was sind Ihre Macken?
Als ich mit Stephan Eicher durch Paris spazierte, sagte er mir immer: «Du gehst wie ein Bauer.» Mein Gang passt scheinbar nicht in diese grosse Stadt (lacht). Auch so eine Eigenheit ist, dass ich sehr viel nachts arbeite.
Was sagt Ihre Frau Maja zum nächtlichen Musizieren?
Ich kann sie zitieren, da sie das oft gefragt wird. Sie sagt: «Ich erwache in der Nacht, höre von weit her eine Melodie, erkenne sie sogleich, und schlafe dann in Ruhe wieder ein, weil ich weiss: Er ist da.»
Was ist das Schöne am Altern?
Die Grosskinder meiner Frau, wo ich ehrenhalber Grossvater bin. Der dreijährige Yanis und die einjährige Nora sind ein- bis zweimal pro Woche bei uns. Diese Tage sind uns heilig! Das Titellied auf dem Album habe ich Yanis gewidmet: Ihn würde ich tragen bis ans Ende der Welt.
Wann haben Sie mit sich selbst gehadert?
Ich war als junger Mann ein professioneller Leider. Jene Frau, die ich damals unbedingt haben wollte und die meine grosse Liebe war, war verheiratet und hatte bereits ein Kind. Ich habe mich lange dafür bemitleidet, dass wir unsere Liebe nicht leben konnten.
Wie haben Sie es aus dieser Lebenskrise herausgeschafft?
Ich habe angefangen, an mir selber zu arbeiten. Ich besuchte Kurse und habe gemerkt, wie wichtig es ist, wieder Schüler zu sein, und dass es Lehrer gibt, die einem weiterhelfen können.
Waren Sie in Therapie?
Bob Moore in Dänemark war solch ein wichtiger Lehrer. Er lehrte uns, zu verstehen, dass alles Energie ist, auch beim Menschen. Soll und will ich unglücklich sein, weil die Welt nicht so ist, wie ich sie gern hätte? Früher wollte ich die Welt verändern. Heute ist mir wichtiger, dass ich veränderbar bleibe.
Die schönste Zeit Ihres Lebens?
Einen Sohn zu haben, ihn aufwachsen zu sehen, schon bei seiner Geburt dabei zu sein, das war wunderschön. Und merken, wenn wir zurückschauen, dass wir gerade auch von den unangenehmen Erfahrungen lernen konnten. Das Scheitern meiner ersten grossen Liebe hat mich zum Liederschreiben gebracht. Oder Jahre später, da war ich mit einer Frau zusammen und dachte, diese Beziehung hält fürs Leben. Und trotzdem haben wir uns nach 16 Jahren getrennt. Heute haben wir eine wundervolle Beziehung, allerdings mit Distanz. Meine jetzige Frau und diese Frau sind sehr gute Freundinnen geworden. Das ist wunderbar!
Glauben Sie noch an die ewige Liebe?
Ich bin jetzt bereits 14 Jahre mit meiner Frau glücklich. Gerade letzthin haben wir uns angeschaut und gesagt: Es ist wahnsinnig, wir haben uns immer noch so gerne.
Der Titel Ihrer ersten LP hiess 1976 «Es schyyst mi a». Würden Sie die alten Zeilen noch unterschreiben?
Auf jeden Fall! Mich scheisst immer noch einiges an in unserem Land: zum Beispiel die planlose Überbauung des Mittellands, der Wahnsinn des Verkehrs, oder wenn ich sehe, wie in unseren schönen Altstädten kleine Läden verschwinden, weil die Leute lieber in Einkaufszentren auf dem Land einkaufen.
Sperren Sie sich gegen Fortschritt?
Fortschritt ist nicht nur positiv, wie man lange Zeit geglaubt hat. Wer ausser 1200 Facebook-Freunden keine wirklichen Freunde hat, nur noch über eine Tastatur kommuniziert, kann die wirkliche Kommunikation unter Menschen verlieren. Alles wird schneller. Aber langsam, weniger hektisch und damit weniger oberflächlich zu sein, das täte uns sehr gut.
Haben Sie noch Träume?
Ich möchte auch mit 86 noch musizieren, singen und wandern können. Und ich möchte im Kopf noch richtig wach sein. Es macht mich traurig, wenn ich junge Menschen mit einem riesigen Potenzial sehe, die sich zukiffen oder saufen. Am liebsten würde ich ihnen sagen: Giele, das isch so hueretammischaad. Warum bin ich alter Sack zehnmal wacher als ihr Jungen?
Angst vor dem Tod?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe ja gelebt. Angst vor einem langen Leiden vor dem Tod, das schon, aber nicht vor dem Ende. Das kommt sowieso.