Es wäre ein tipptopper Badi-Abend gewesen: heiss, feucht, klebrig. Eigentlich. Nicht so für die Autorin und Regisseurin Güzin Kar (46). Wir treffen uns nach Feierabend zum Gespräch, sie hat bereits ein TV-Interview in der prallen Sonne hinter sich. Wir reden über ihre neue Serie «Seitentriebe», die SRF Ende Jahr bringt. Darin nimmt Kar die Zuschauer mit in die Welt dreier langjähriger Paare. Zweien ist der Sex abhandengekommen. Keinem aber die Liebe.
Wie geht es Ihnen?
Güzin Kar: Inzwischen sehr gut. Ich hatte kürzlich gesundheitliche Probleme. Meine Ärztin, die ich wegen leichter Kreislaufprobleme aufgesucht hatte, blickte mich entsetzt an und wollte mich gleich ins Spital einliefern. Sie dachte, ich sei kurz davor zu sterben. Sie hat mich bei sich in der Praxis behalten, mir Zeugs gespritzt und mich vom Fussende des Schragens aus beobachtet.
Und dann?
Als ich nach zwei Stunden immer noch nicht tot war, fand sie: Okay, dann halt nicht. Aber ich stehe seither unter ärztlicher Beobachtung. Etwas ist gesundheitlich im Argen, aber man weiss noch nicht recht, was. Sonst geht es mir aber gut, ich bin fast fertig mit dem Schnitt meiner TV-Serie. Das ist ein schönes Gefühl.
Was ist am schlimmsten: Schreiben, Drehen oder Schneiden?
Das Drehbuchschreiben ist eine Folter. Das würde ich in Guantánamo einsetzen, wenn es nicht so zynisch wäre, was ich da gerade sage. Ich frage mich jedes Mal, weshalb ich das mache. Drehen ist das Zweitschlimmste und Schneiden das absolut Schönste.
Weshalb?
Weil es so intim ist. Man sitzt über Wochen da und erzählt den Film nochmals. Beim Schnitt hat man Zeit für Entscheidungen und zum Überlegen. Man kann etwas ruhen lassen und später darauf zurückkommen. Das ist beim Film sonst nicht möglich. Gerade beim Drehen ist immer ein Gewusel, und es sind ständig schnelle Entscheidungen gefragt.
Haben Sie beim Schneiden viel auf den Kopf gestellt?
Von der Geschichte her nicht, nein, aber wir haben dramaturgisch einiges verschärft. Zum Beispiel Szenen ineinander verschachtelt, die gar nie so angedacht waren. Diese Rhythmussachen finde ich enorm spannend.
Sie drehten grösstenteils im Zürcher Oberland. Wieso?
Schuld ist das Saurier-Museum in Aathal. Mein Mann und ich haben im Zürcher Oberland ein Atelier, in das wir uns zum Schreiben zurückziehen. Und so fuhren wir immer wieder an diesen riesigen Plastiksauriern vorbei, die, so glaube ich, ernst gemeint sind. Es war für mich klar, dass dieser Ort in meinem nächsten Film vorkommen muss.
Saurier alleine reichen aber wohl kaum für eine Serie über Sex in langjährigen Beziehungen.
Darüber hinaus gibt es im Oberland viele verlassene Fabriken. Es ist eine geschichtsträchtige Gegend, die im Jetzt so völlig unprätentiös daherkommt. Ich begann mich zu fragen, was das mit Leuten um die 40 macht, die dort leben.
Was ist die Antwort?
Dass die Leute genau so werden. Dass sie grosse Träume, hohe Ansprüche und eine lange Geschichte haben, aber unscheinbar und bescheiden leben. Man spürt allerdings, dass etwas in ihnen gärt.
Werden Langzeitbeziehungen auf dem Land anders gelebt als in der Stadt?
Die Ausweichmöglichkeiten sind in der Stadt andere als in der Agglomeration oder auf dem Land. In der Stadt hat man viele Möglichkeiten, etwas zu unternehmen, man kann sich Freunde zusammensuchen. Auf dem Land nimmt man jene, die man kennt, Nachbarn oder Leute aus dem Turnverein. Und in der Agglo, wo wir gedreht haben, ist es eine Mischform. Die existenzielle Frage stellt sich jedoch universell in wohl allen klassischen Zweierbeziehungen.
Nämlich?
Für mich lautet sie in monogamen, heterosexuellen Beziehungen eindeutig, ob Liebe, Sex und Kinderwunsch zwangsläufig zum gleichen Partner, zur gleichen Partnerin gehören. Nur wenige sprechen darüber, dass der Sex in langen Beziehungen abnimmt oder ganz wegfällt. Viele Leute lieben sich heiss, begehren sich aber nicht mehr. Darüber wollte ich eine Geschichte machen. Sex und Liebe fallen eben nicht mehr unbedingt zusammen.
Vor allem bedingen sich Fortpflanzung und Liebe heute nicht mehr.
Schwule und Lesben haben es uns vorgemacht. Sie mussten sich von Anfang an überlegen, wie sie sich ihren möglichen Kinderwunsch erfüllen können. Aber statt von ihnen zu lernen, tut man das als ungesunde Spielart ab. Ich hingegen finde, es ist eine Chance. Ich kenne zum Beispiel eine heterosexuelle Frau, die mit zwei Schwulen eine Familie gegründet hat. Sie hatte einen Kinderwunsch, aber keinen Freund, die Männer wollten ein Kind. Geht doch. Grossartig!
Wie steht es um die monogame, heterosexuelle Beziehung?
Ich behaupte, dass sie in einer grossen Krise ist. Das heisst nicht, dass sie niemand leben kann, ich lebe ja selber in einer. Aber sie taugt nicht als alleinbestimmendes Modell. Wir müssen unbedingt Alternativen anschauen und leben.
SonntagsBlick-Magazin-Autor Thomas Meyer plädiert für mehr Trennungen, weil er glaubt, dass Menschen glücklicher würden.
Ich glaube, das stimmt für viele, aber verallgemeinern kann man das nicht. Ich bin kein Fan davon, schnell zu entscheiden und zu gehen.
Meyer glaubt an das Konzept der seriellen Geborgenheit. Also daran, dass es für jede Lebensphase die passende Partnerin, den passenden Partner gibt. Und SieDas Konzept der seriellen Monogamie entspricht gewissen Typen, ja. Leute dürfen sich Lösungen suchen, die unkonventionell sind. Zum Beispiel finde ich es spannend, wenn Paare nicht zusammen wohnen. Mein Mann und ich sind nach unserer Heirat erst mal nicht zusammengezogen. Solange wir unverheiratet waren, fiel das nicht weiter auf. Aber sobald der Trauschein da war, fragten plötzlich viele entgeistert, weshalb wir getrennt wohnten. Da habe ich zum ersten Mal realisiert, wie konventionell die Gesellschaft Paarkonstellationen bewertet. Wenn es finanziell möglich ist, würde ich Paaren separate Wohnungen empfehlen.
Was ist der Coolness-Faktor einer Langzeitbeziehung?
Die sind längst nicht mehr cool. Aber man sollte gar keine Coolness suchen in Beziehungen, auch in Freundschaften nicht. Für mich ist es dieses tiefe Vertrauen, dass da jemand ist, auf den ich mich beziehe und der sich auf mich bezieht. Ein anderer Mensch ist wichtiger Teil meiner Lebenswelt. Man muss ja nicht alles aus sich selbst heraus generieren. Es ist nur schon schön, mit jemandem zu verhandeln, wohin es in die nächsten Ferien gehen soll. Ich war dank meines Mannes an Orten, an die ich ohne ihn nie gegangen wäre. Ich finde, man verbaut sich etwas, wenn man sich nicht mit einem Menschen zusammentut.
Sie machen das zum Thema einer Serie im gebührenfinanzierten Fernsehen. Ein Minenfeld, weil vermutlich die Hälfte der Leute Ihre Serie überflüssig finden wird.Wir können uns lange fragen, wofür wir als Gesellschaft Geld ausgeben wollen. Ich habe mich entschieden, dass ich sehr wohl Geld für die Kultur ausgeben will. Ich gebe genauso gern Geld aus für Politiker. Parlamentarier sollen ihre Sitzungshonorare bekommen. Ich bezahle auch jene mit, die mir politisch nicht nahestehen. Das ist Demokratie. Ich habe keinerlei Schuldgefühle, wenn ich für das Schweizer Fernsehen arbeite.
Ihr Auftrag war, etwas fürs junge Publikum zu machen. Das sind beim SRF Zuschauer zwischen 30 und 49 Jahren. Wen hatten Sie beim Schreiben im Kopf?Niemanden und alle. Ich hatte diese Idee schon lange, sie war ursprünglich als Theaterstück gedacht. Mir ist egal, wer schaut, Hauptsache, die Leute interessiert es.
Im Klappentext Ihres Buches «Ich dich auch» von 2006 steht, Sie seien eine Melancholikerin und eine Hypochonderin. Stimmt das immer noch?
Oh ja. Hypochondrie hört nicht auf. Ich habe immer alles. Ich hatte Ebola, BSE, Sars, und natürlich fragte ich vorhin beim Fotografieren auf der Wiese als Erstes, ob da Zecken seien. Morgen werde ich bestimmt ganz viele Zeckenbisse haben.
Und die Melancholie?
Das ist kein Temperament, das man sich aussucht, sondern eine Lebenshaltung.
Eine gesuchte oder eine, die sich aus der Biografie ergab?
Ich glaube, sie ist angeboren. Ich war schon als Kind so.
Ist das Komödiantische, das Sie machen, eine Kompensation?
Melancholie ist keine Depression, das ist wichtig zu sagen. Melancholie ist die totale Hingabe zum Leben mit dem Wissen, dass wir sterben. Der Melancholiker hat immer das Ende im Hinterkopf und ist deshalb bei allem ein bisschen traurig.
In Ihren Kolumnen und auf Twitter machen Sie häufig Ihrem Ärger Luft. Sind Sie eine Wutbürgerin?
Sich über etwas aufzuregen und darüber zu schreiben, wäre zu banal. Ich setze mich nie hin und schreibe wütend über ein Thema. Wenn ich beschliesse, dass eine Kolumne zornig klingen soll, arbeite ich meistens lange daran. Ich will, dass meine Texte immer so aussehen, als hätte ich sie am Morgen früh, noch im Pyjama und mit zerzaustem Haar, runtergehackt. Und ich möchte, dass jeder und jede sagt: So schreiben könnte ich auch.
Nebst Ihren Kolumnen schrieben Sie Bücher in der Ich-Form. Viele nehmen deshalb automatisch an, dass Sie, Güzin Kar, dieses oder jenes Problem haben.
Bei Männern akzeptiert man eher, dass sie verschiedene Ichs einnehmen können in der Erzählung. Bei Frauen geht man davon aus, dass es biografisch ist. Die Ich-Form ist eine gute, radikale Erzählform, die man gezielt einsetzen kann. Dass das zu Verwirrungen führen kann, ist mir klar. Aber das leiste ich mir.
Sie riefen im Frühling Frauen auf Twitter auf, sich unter dem Hashtag #wearehere eine Woche lang nur auf Geschlechtsgenossinnen zu beziehen. Wieso war das nötig?
Meinungen von Männern dominieren die sozialen Medien. Das sieht man in Diskussionsrunden genauso: Eine Frau sagt etwas, niemand reagiert. Drei Minuten später sagt ein Mann das Identische, und alle finden es super. Wir müssen uns die Frage stellen: Auf wen beziehen wir uns? Von wem nehmen wir Komplimente an? Wer sind unsere geistigen Autoritäten? Es ist eine Wahrnehmungsübung, die natürlich einen politischen Hintergrund hat.
Im Nachgang zur Aktion sagten Sie, Frauen sollten unberechenbarer sein. Wie meinen Sie das?
Ich finde es schade, dass Frauen immer Fertiges präsentieren wollen und sollen. In Podiumsdiskussionen fällt mir oft auf, dass Voten von Frauen fast druckreif sind. Männer machen eher mal Sprünge und denken laut. Diese Umwege müssen wir uns auch leisten. Die Unvorhersehbarkeit ist für mich zurzeit eine der radikalsten Haltungen. Sie hat nichts mit Planlosigkeit oder Beliebigkeit zu tun, sondern ist die Offenheit zu schauen, was auf dem Weg passiert.
Wo haben Sie das selber gelernt?
Ich war mal Punk, komme aus der Hausbesetzerszene. Der irrste Gedanke am Punk war für mich nicht das kaputte Aussehen, sondern das Unvorhersehbare. Wir machten Unfertiges und waren stolz darauf. Ich war selber ein Provisorium. Menschen, die nicht mal Songs fertig machen, waren schwierig für die Bourgeoisie. Ich fand das fantastisch. Und es blieb mir.
Wann waren Sie zuletzt mutig genug für etwas Unfertiges?
Ich habe mitten im Dreh bei einer Szene gesagt, dass mir etwas nicht gefalle, ich aber nicht sagen könne, was. Alle waren auf Position und bereit. Das hätte ich mich vor zehn Jahren nicht getraut. Wäre ich im klassischen Modus geblieben, um die Leute um mich herum nicht zu enttäuschen, wäre ich heute unzufrieden. In dem Moment entschied ich mich dafür, alle zu brüskieren. Und jetzt gehört die Szene zu den schönsten.
Kritisieren ohne Gegenvorschlag geht im Normalfall gar nicht.
Naja, da es mein Film und meine Szene war, ging das schon. Meine Assistentin hat mich nach den Dreharbeiten gefragt, ob ich keine Angst hätte, mich unbeliebt zu machen. Diese Angst habe ich vor zehn Jahren noch gehabt. Heute weiss ich, dass man sich nicht unbeliebt macht, weil man keine voreiligen Antworten liefert. Ausserdem wirst du richtig unausstehlich, wenn du parierst und Zeug ablieferst, das dich nicht glücklich macht.
Ihre ersten fünf Lebensjahre verbrachte sie in der Türkei, dann wuchs sie im -Aargauer Fricktal auf. Das komme aufs Gleiche heraus, sagt sie. In -Zürich studierte sie Germanistik und Filmwissenschaft und absolvierte in Ludwigsburg (D)die Filmakademie Baden-Württemberg. Güzin Kar -debütierte mit dem Drehbuch zum -Dialektfilm «Lieber Brad» und feierte mit dem Kinderfilmklassiker «Die wilden Hühner» -einen Grosserfolg. Kar schreibt regelmässig Kolumnen für den «Tages--Anzeiger» und die «BZ Basel».
Ihre ersten fünf Lebensjahre verbrachte sie in der Türkei, dann wuchs sie im -Aargauer Fricktal auf. Das komme aufs Gleiche heraus, sagt sie. In -Zürich studierte sie Germanistik und Filmwissenschaft und absolvierte in Ludwigsburg (D)die Filmakademie Baden-Württemberg. Güzin Kar -debütierte mit dem Drehbuch zum -Dialektfilm «Lieber Brad» und feierte mit dem Kinderfilmklassiker «Die wilden Hühner» -einen Grosserfolg. Kar schreibt regelmässig Kolumnen für den «Tages--Anzeiger» und die «BZ Basel».