Auf einen Blick
Das Nein am Abstimmungssonntag zur BVG-Reform, die Suizidkapsel Sarco, der Prämienschock – Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (60) war in den letzten Tagen die gefragteste Person der Schweizer Landesregierung. Bei der Tragweite dieser Themen geht ein Dossier, das der Jurassierin genauso am Herzen liegt, fast unter: Elisabeth Baume-Schneider ist auch Kulturministerin – und eröffnet in dieser Rolle am 3. Oktober das Zurich Film Festival.
Sie hetzen momentan von Session zu Termin zu Pressekonferenz. Fühlen Sie sich manchmal wie im falschen Film?
Elisabeth Baume-Schneider: Absolut nicht. Man spielt vielleicht nicht immer seine Wunschrolle. Aber wenn man Politik macht, kann man sie auch mal etwas freier interpretieren und sein Dossier dennoch mit Leidenschaft und den richtigen Argumenten führen.
Zu Ihrem Dossier gehört auch die Schweizer Filmförderung – und die Verteilung der Budgets. Der Schweizer Filmemacher Michael Steiner ist aus der Filmakademie ausgetreten; seiner Ansicht nach sei die Romandie überproportional vertreten, man schiebe sich beim Filmpreis die Nominationen zu. Muss das Fördersystem überdacht werden?
Nein, das denke ich nicht. Die Schweiz ist zu klein, um zwischen Deutschschweiz, Romandie, Tessin und Italienischbünden sowie den romanischsprachigen Gegenden zu streiten. Da sollte sich die Politik auch nicht einmischen, eine Jury muss das autonom organisieren können. Ausserdem muss das Prinzip der Kunstfreiheit hochgehalten werden.
In Zürich wird das Opernhaus aber beispielsweise mehr als doppelt so hoch subventioniert wie das Filmschaffen. Und der Kanton Wallis spricht seinen lokalen Filmproduktionen jährlich sehr viel Geld. Das ist doch ein Ungleichgewicht.
Ja, es gibt Unterschiede. Aber: Der Bund handelt in der Kulturpolitik mit Ausnahme des Films nur subsidiär. Es sind die Kantone und Städte, die den Ton angeben. Ich muss allerdings sagen, dass ich in dieser Hinsicht sehr stolz auf die Westschweiz bin. Hier gibt es seit mehreren Jahren das sogenannte Cinéforom, das dafür sorgt, dass Städte und Kantone enger zusammenarbeiten und so ihre Kräfte in der Filmförderung bündeln können. Das Wallis ist in dieser Hinsicht auch ein gutes Beispiel: Wer dort dreht, wird stark vom Kanton unterstützt. Und das wiederum hat einen positiven Effekt auf die ganze Region. Zum Beispiel wirtschaftlich. Man könnte ja in Zürich mal einen Film über die Oper drehen! (Lacht.)
Es gibt also wirklich keinen filmischen Röstigraben?
Es gibt verschiedene Filmkulturen. Der Deutschschweizer Film orientiert sich natürlich an den deutschsprachigen Nachbarländern, der Film aus der Romandie an Frankreich und Belgien. Wichtig ist, dass man innerhalb der Schweiz zusammenarbeitet. Und ich bin überzeugt, dass man das nicht von oben organisieren kann.
Wir bleiben in der Westschweiz. Vor ein paar Tagen haben Sie uns das Kino Ihres Wohnorts Les Breuleux JU gezeigt. Der Ort hat 1700 Einwohner.
Erstaunlich, oder? Und in vielen umliegenden Gemeinden gibt es auch Kinos.
Erinnern Sie sich an Ihren ersten Film?
Wir sind oft mit der Schulklasse ins Kino. Es könnte ein Charlie Chaplin gewesen sein. Und irgendwann habe ich «Die Schweizermacher» gesehen.
Ein Film, der den hiesigen Behördenwahnsinn aufs Korn nimmt. Und der Schweiz den Spiegel vorhält. Ist er gut gealtert?
Leider sind die heutigen Verhältnisse teilweise noch ähnlich. Ich fand das schon als Kind ungerecht. Ich bin in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Wir hatten viele Saisonniers aus Ex-Jugoslawien und der Türkei. Das waren alles gestandene Männer, Familienväter. Für mich war es schwer verständlich, dass sie ihre Familien nicht mitbringen durften. Ich habe auch heute noch den Eindruck, dass Menschen, die zum Arbeiten in die Schweiz kommen, hier nicht immer korrekt behandelt werden – und doch bringen sie uns so viel. Wie sagte Max Frisch? «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.»
Gab es noch andere Filme, die einen ähnlichen Einfluss auf Sie hatten?
«E la nave va» von Federico Fellini. Ein Film, der das Ungleichgewicht zwischen den sozialen Klassen aufzeigt, eine Allegorie unserer Gesellschaft. Auch biografische Filme wie «Mandela: Long Walk to Freedom», haben mir immer wieder aufgezeigt, dass das Leben nicht für alle gleich ist.
Mit welchen Genres können Sie gar nichts anfangen?
Ich bin da ziemlich offen. Auch Horrorfilmen kann ich etwas abgewinnen. Solange sie ästhetisch sind. Dasselbe gilt für das Genre des Schlachtenepos: Meine Söhne lieben zum Beispiel «Herr der Ringe» – da gibt es auch eine Dramaturgie des Kampfes, aber sie ist beeindruckend inszeniert. John Howe, den künstlerischen Kopf bei Peter Jacksons Trilogie, habe ich übrigens einmal in St. Ursanne JU getroffen.
Elisabeth Baume-Schneider (60) schaffte mit ihrer Überraschungswahl in den Bundesrat eine Premiere: Zum ersten Mal ist der Kanton Jura in der Landesregierung vertreten. Seit Anfang 2024 steht sie dem Innendepartement vor. Zuvor amtete sie ein Jahr lang als Justiz- und Polizeiministerin. Von 1995 bis 2002 war sie Grossrätin, von 2003 bis 2015 gehörte sie als Bildungsdirektorin der jurassischen Kantonsregierung an. 2019 wurde sie zur Ständerätin gewählt. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in Les Bois JU, lebt sie heute in Les Breuleux JU. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.
Elisabeth Baume-Schneider (60) schaffte mit ihrer Überraschungswahl in den Bundesrat eine Premiere: Zum ersten Mal ist der Kanton Jura in der Landesregierung vertreten. Seit Anfang 2024 steht sie dem Innendepartement vor. Zuvor amtete sie ein Jahr lang als Justiz- und Polizeiministerin. Von 1995 bis 2002 war sie Grossrätin, von 2003 bis 2015 gehörte sie als Bildungsdirektorin der jurassischen Kantonsregierung an. 2019 wurde sie zur Ständerätin gewählt. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in Les Bois JU, lebt sie heute in Les Breuleux JU. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.
Haben Sie überhaupt noch Zeit, ins Kino zu gehen?
Wenn, dann am Sonntagabend mit meiner Schwägerin. Das ist zum Ritual geworden.
Und wer hat im Bundesrat den besten Filmgeschmack?
Ich war noch nie mit einem Kollegen oder einer Kollegin im Kino.
Aber Sie tauschen sich doch bestimmt über Filme oder die neuesten Netflixserien aus …
Tatsächlich. Mein Kollege Ignazio Cassis hat mir «Bon Schuur Ticino» empfohlen. Ich habe ihn mir gemeinsam mit meinen Söhnen angesehen – sehr unterhaltsam.
Wenn Sie sich Ihre Filmtipps nicht im Bundesrat holen – wo dann? Das Angebot ist ja beinahe unermesslich – vor allem mit den ganzen Streaminganbietern.
Wissen Sie, ich bin da noch ziemlich altmodisch. Ich schaue in der Zeitung nach, welcher Film gute Kritiken hat. Es ist leider gar nicht mehr so einfach, gute Filmkritiken zu finden! Die Medienkrise zeigt sich auch hier. Obwohl die Reflexion über den Film für die Branche und das Publikum sehr wichtig ist.
Zurück zu den Streaminganbietern – und der Lex Netflix. Sie sieht eine ausländische Investitionspflicht seitens Netflix und Co. von vier Prozent ins Schweizer Filmschaffen vor. Was bringt sie dem Land sonst noch?
Auf jeden Fall nicht nur mehr Geld, sondern auch neue Möglichkeiten für Kooperationen. Beides ist wichtig: Es gibt hierzulande so viele hochkarätige Filmschaffende, die durch zusätzliche Mittel und ein grösseres Netzwerk noch kreativer sein können.
Von wie viel Geld reden wir?
Das lässt sich noch nicht abschliessend sagen – in vier Jahren werden wir überprüfen, welche Summe investiert wurde und wie viel als Ersatzabgabe geleistet wird. Eines kann ich versprechen: Es wird der Schweizer Kulturlandschaft guttun.
Die Budgetdiskussion rund um das Kulturschaffen hält an, Bürgerliche und Rechte machen sich für Kürzungen stark. Mit welchen Argumenten kämpfen Sie dagegen an?
Wir haben gerade während der Pandemie gemerkt, was fehlt, wenn wir auf Kultur verzichten müssen. Es gilt, sie zu fördern – egal, ob professionell oder nicht. Kultur ist das Aushängeschild der Schweiz. Und das nicht nur gegenüber den Botschaftern anderer Länder.
Das klingt gut – die Realität ist aber: Viele Kulturschaffende hangeln sich von Job zu Job. Und wissen nicht, wie sie ihre Miete bezahlen sollen. Können Sie sie beruhigen?
Sie wissen, dass das nicht so einfach ist. Das Gute: Wir sind mit der Kulturbotschaft daran, gewisse Standards festzulegen. Lohngleichheit, der Schutz vor Diskriminierung – und es kann nicht sein, dass der Künstler oder die Künstlerin am Ende des Tages eine Art Variable ist.
Wie meinen Sie das?
Ich habe das als Kulturministerin des Kantons Jura selbst miterlebt. Man budgetiert ein Projekt und merkt, dass die Mittel nicht ganz reichen – dann gibt es oft den Reflex, dass man sagt, die Schauspielerin wird es sicher auch für weniger Geld machen. Das darf nicht sein. Wir müssen auch würdigen, dass eine Künstlerin nicht nur arbeitet, wenn sie auf der Bühne steht oder schreibt. Der ganze kreative Prozess einschliesslich des Vertriebs sollte berücksichtigt werden. Es ist wichtig, diese Arbeit gesamthaft anzuerkennen.
Das Nein zur BVG-Revision birgt aber gerade in dieser Hinsicht noch einige Fragezeichen: Viele Kulturschaffende sind Tieflöhner und arbeiten in Teilzeit. Das Problem der tiefen Renten ist noch immer nicht gelöst. Wie geht es weiter?
In der Kultur ist die Situation sowieso noch einmal anders – hier gibt es viele Arbeitsverhältnisse, die von unserem gesetzlichen Versicherungssystem nur ungenügend erfasst werden. Viele wissen nicht, wo und für wen sie in einem halben Jahr arbeiten werden. Gerade für Filmschaffende ist es – wie erwähnt – umso wichtiger, dass ihr ganzes Schaffen anerkannt wird und dass sie zum Beispiel auch Arbeitslosenentschädigung beanspruchen können. Daneben scheint mir für die Branche wichtig, dass es zwischen den Geschlechtern Lohngleichheit gibt und dass sexuelle Übergriffe entschieden bekämpft werden.
Es ist gut, zu hören, dass Ihnen dieses Thema so am Herzen liegt.
Wir sehen es jetzt gerade in Frankreich mit Judith Godrèche, wir hören es von Theatertruppen. Sexuelle Ausbeutung und Übergriffe sind eine Realität. Und wir müssen entschieden dagegen vorgehen.
Am 3. Oktober eröffnen Sie das Zurich Film Festival gemeinsam mit Hollywoodstar Jude Law ...
Wie alt ist der mittlerweile?
Auch schon 51.
Ich weiss noch überhaupt nicht, worüber ich mit ihm sprechen werde – einige meiner Freundinnen finden das natürlich schon sehr spannend (lacht). Im Ernst: Im Endeffekt sind es genau solche Momente, die mir helfen, diese ganze Filmwelt besser zu verstehen. Ich freue mich!