In der «Sternstunde Philosophie» sind Barbara Bleisch und Yves Bossart jeweils am Sonntagmorgen bei SRF 1 mit Gästen im Gespräch. Für das Youtube-Format «Bleisch & Bossart» setzen sich die beiden nun erstmals zusammen an einen Tisch, um philosophische Positionen und Argumente zu Lebensfragen auszutauschen, die uns alle beschäftigen. Direkt, in Mundart und frei von Tabus, heisst es. Wir machen mit Bleisch die Probe aufs Exempel.
SonntagsBlick: Im Frühling machte die Pandemie noch weniger Sorgen, jetzt drückt die Situation viel mehr aufs Gemüt – das belegen Umfragen und der Fakt, dass mehr Psychopharmaka verschrieben werden. Was macht Corona mit uns und unserer Seele?
Barbara Bleisch: Corona strapaziert unsere Geduld – umso mehr als wir nicht wissen, wie lange die Pandemie anhält. Zwar scheinen Impfstoffe in Sicht. Aber wir wissen alle, dass es noch eine Weile dauern wird, bis diese erprobt sind und eine Bevölkerung hinreichend durchgeimpft ist, so dass es gar keine Massnahmen zur Eindämmung des Virus mehr braucht. Im Frühling haftete der neuen Situation noch der Reiz des Exotischen an. Sie inspirierte uns zu neuen Sozialexperimenten und trat Wellen der Solidarität los. Ausserdem stand der Sommer vor der Tür. Jetzt sind wir müde, und es wird kalt und dunkel.
Wie kann Philosophie in einer solchen Krise helfen?
Philosophie ist weniger Lebenshilfe als vielleicht eine Lebenskunst: Sie fragt unter anderem danach, wie ein gutes Leben glücken kann und worin Zufriedenheit besteht. Vor allem die antike Philosophie der Stoa, die selber in einer Krisenzeit entstanden ist, wartet mit Geistesübungen auf, die uns in dunklen Zeiten Orientierung geben können. Zum Beispiel zu unterscheiden zwischen dem, was in meiner Macht steht zu ändern, und dem, was ich hinnehmen muss. Die meisten konzentrieren sich in ihrem Leben auf das, was sie gar nicht ändern können: ihren Partner, den Lärm der Baustelle vor dem Haus, ihr Äusseres. Paradox!
In Ihrem neuen Format «Bleisch & Bossart» diskutieren Sie mit Ihrem Moderationskollegen Yves Bossart alltägliche Fragen philosophisch. Was unterscheidet ein philosophisches Gespräch von einem anderen?
Es gibt diesen trivialen Satz: «Für gewöhnlich fragen wir: Welche Zeit ist es? Philosophen fragen: Was ist Zeit?» Das macht deutlich, dass Philosophinnen versuchen, stets hinter die Phänomene zu blicken und Selbstverständliches zu hinterfragen. Unsere Gespräche sind eine Mischung aus philosophischer Wissensvermittlung, persönlichem Bekenntnis und kleinen Neckereien. Wir reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist, also schweizerdeutsch.
Barbara Bleisch (47) moderiert seit zehn Jahren die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie». Die Philosophin ist zudem Dozentin für Ethik in verschiedenen universitären Nachdiplomstudiengängen und Autorin zahlreicher Bücher. Bleisch ist Mutter zweier Töchter und wohnt mit ihrem Mann in Zürich.
Barbara Bleisch (47) moderiert seit zehn Jahren die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie». Die Philosophin ist zudem Dozentin für Ethik in verschiedenen universitären Nachdiplomstudiengängen und Autorin zahlreicher Bücher. Bleisch ist Mutter zweier Töchter und wohnt mit ihrem Mann in Zürich.
Wie wichtig ist Nachdenken in unserem Leben gerade jetzt und warum?
Aufmerksamkeit ist die Währung unserer Zeit. Um sie wird in den sozialen Medien gestritten, auf Newsportalen, bei Fernsehsendern. Algorithmen lenken und kanalisieren unsere Aufmerksamkeit. Das Schrille, Pauschale, Simple bindet mehr Aufmerksamkeit – eine simple Tatsache. Also wird uns das meiste eben auch vereinfacht und zugespitzt präsentiert. Zugleich verflacht damit die Weltwahrnehmung, die Diskussion dünnt aus, weil das Extreme ja keine Schattierung mehr zulässt. Philosophie ist da ein Gegenmittel: Sie ist die Kunst der Genauigkeit und sie macht das vermeintlich Klare erst mal verworren und kompliziert. Auf den zweiten Blick macht sie die Welt aber vor allem interessanter, reicher, bunter.
Zurück zur Pandemie: Was lösen Maskentragen und Distanz, sprich Isolation, in uns aus?
Die Pandemie führt dazu, dass wir das In-Berührung-Kommen mit unseren Mitmenschen als etwas Gefährliches ansehen: Jeder ist ein potenzieller Virenträger! Viele berichten, dass sie jetzt weniger erkältet sind als in anderen Wintern. Wir erfahren also, wie gut Distanz und Masken vor Infektionen schützen. Meine Sorge ist, dass wir nicht wieder zurückfinden zu einem auch körperlichen Umgang miteinander. Es müssen ja nicht immer die drei Küsschen sein. Aber ein Handschlag ist einfach etwas Wunderbares.
Geht das Gemeinschaftsgefühl verloren, wenn wir uns nicht mehr an Konzerten oder auf Weihnachtsmärkten begegnen?
Was mich anbelangt, fühl ich mich auf Weihnachtsmärkten eher bedrängt denn aufgehoben. Was uns fehlt, sind eher Zusammenkünfte unter Freunden und Verwandten. Aber stimmt schon, gemeinsam im Kino zu sitzen, ist etwas anderes als jeder allein vor dem Bildschirm. Ausserdem machen wir uns für den Ausgang zurecht. Fernsehen kann man auch im Pyjama auf der Couch. Was uns fehlt, sind Zäsuren im Alltag: Momente, die sich vom Homeoffice klar abgrenzen.
Werden wir schlicht verblöden, wenn wir einen ganzen Winter lang daheim hocken und Netflix gucken?
Es gibt diesen lustigen neuen Spot der deutschen Bundesregierung, in der ein alter Herr zu dramatischer Musik rückblickend sagt: «Es war der Winter 2020. Wir waren Helden – und taten nichts.» Das hat natürlich was: Im Moment ist Couch Potato sein so ziemlich das Richtige. Dass wir deshalb verblöden, glaub ich nicht. Ablenkung kann ja auch helfen, die Zeit durchzustehen. Peter Handke hat mal so schön gesagt, die zwei schönsten Aufforderungen der deutschen Sprache seien «Lass!» und «Lies!». In Kombination der beiden Worte kann Gelassenheit sicher auch klüger machen.
Die viele Zeit daheim bringt Stress, fordert Familien und Paare heraus. Manche finden in der Krise näher zueinander, bei anderen passiert genau das Gegenteil, warum?
Krisen machen Bruchlinien sichtbar. Und in jedem Leben gibt es Bruchlinien, die von der Geschäftigkeit des Alltags verdeckt werden. Wenn man sich nicht mehr ausweichen kann, wird auch das Gegenüber in seiner Ambivalenz sichtbarer. Man sollte das aber nicht dramatisieren. Was die Nähe zutage fördert, ist nicht zwingend das wahre Gesicht einer Beziehung. Die einen Paare und Familien brauchen einfach mehr Distanz zueinander als andere. Daran ist ja nichts auszusetzen. Sie haben es im Moment einfach schwerer.
In ihrem neuen Youtube-Format «Bleisch & Bossart» streiten sich Barbara Bleisch und Yves Bossart (37), Moderierende der Sternstunde Philosophie, über philosophische Alltagsfragen. Thema der zehnminütigen Streitgespräche waren bisher. «Warum heiraten wir?», «Wozu brauchen wir Rituale?» und «Dürfen wir strafen?». Die einzelnen Folgen finden sich auf dem Youtube-Kanal von SRF Kultur.
In ihrem neuen Youtube-Format «Bleisch & Bossart» streiten sich Barbara Bleisch und Yves Bossart (37), Moderierende der Sternstunde Philosophie, über philosophische Alltagsfragen. Thema der zehnminütigen Streitgespräche waren bisher. «Warum heiraten wir?», «Wozu brauchen wir Rituale?» und «Dürfen wir strafen?». Die einzelnen Folgen finden sich auf dem Youtube-Kanal von SRF Kultur.
Was macht eine Begegnung eigentlich aus, können Videokonferenzen den echten menschlichen Kontakt ersetzen?
Das kommt auf die Konferenz an. Keynote-Referate können vielleicht ganz gut via Video gehalten werden. Aber vielen Rednern fehlt das Publikum, das sich in einem Saal durch Lachen, Gähnen oder Räuspern ja durchaus bemerkbar macht. Und vielen fehlt die Möglichkeit, nach einer Sitzung kurz persönlich nachzufragen: Wie fandest du den Einwand der Kollegin? Oder auch einfach: Du warst so still, gehts dir gut? Diese kleinen informellen Rückfragen fehlen jetzt. Auf Dauer leidet das Vertrauen zueinander, wenn wir uns nur noch im virtuellen Grossraumbüro austauschen.
In der Schweiz steigen die Todeszahlen wegen Corona, über 1000 waren es in den letzten zwei Wochen. Dennoch scheinen sich die Sorgen eher um die Einschränkungen zu drehen, die wir gerade erleben. Wo bleiben da der Gemeinschaftssinn und das Mitgefühl?
Auch die Einschränkungen sind für gewisse Menschen bedrohlich, die ihre Geschäftsgrundlage oder Stelle wegen der Massnahmen verlieren. Wir sollten auch Mitgefühl haben mit ihnen. Dennoch haben Sie völlig recht: Die Todeszahlen sind zu hoch, und wir müssen die Verletzlichen besser schützen. Wer zu keiner Risikogruppe gehört und eine feste Stelle hat, sollte sich nach Möglichkeiten für die Opfer der Krise engagieren.
Wenn wir in zehn Jahren auf diese Zeit zurückblicken, was werden wir dazu sagen, was wird sich verändert haben?
Das weiss ich nicht. Aber ich habe kürzlich das Büchlein von Roger Willemsen hervorgenommen, das nach seinem Tod erschienen ist und den Titel trägt: «Wer wir waren». Er fordert uns dazu auf, uns mit dem Blick jener zu sehen, die, wie er sagt «kommen und an uns verzweifeln werden». Wenn wir uns überlegen, wer wir gewesen sein wollen, gibt uns das vielleicht die Schubkraft, die wir brauchen, um die Krise gut durchzustehen.
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