Nachruf auf die TV-Quotenknüller
Thomas Gottschalk besiegelt das Ende einer Ära

40 Jahre nach der Erstausstrahlung gibt es nächsten Samstag ein Revival der Samstagabend-TV-Show «Wetten dass ..?». Ein Abgesang auf den Strassenfeger.
Publiziert: 30.10.2021 um 14:38 Uhr
In den 1950er-Jahren war der Fernseher das moderne Lagerfeuer, an dem sich die ganze Familie wärmte.
Foto: Keystone
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Daniel Arnet

«Derrick»-Darsteller Horst Tappert (1923–2008) tritt auf, Fussballtrainer Otto Rehhagel (83), und Peter Alexander (1926–2011) singt mit der deutschen Nationalmannschaft «Mexico Mi Amor»: Das ist die «Wetten dass ..?»-Sendung vom 12. April 1986 aus Saarbrücken (D), wo das Saalpublikum wettet, dass es Moderator Frank Elstner (79) nicht schafft, bis Sendeschluss 20 Pfarrer mit Skateboards auf die Bühne zu bekommen.

In der Halle ist der Teufel los, und in der Schweiz sitzen 1,8 Millionen Menschen gebannt vor den Fernsehgeräten: Rekord! Die Altstadtgassen und Ausgehmeilen des Landes sind an diesem eiskalten Samstagabend leer, «Wetten dass ..?» ist ein richtiger Strassenfeger und sorgt für Lagerfeuerromantik. Nun sollen die Flammen nächste Woche noch einmal lodern und die Herzen des Publikums erwärmen.

«Europas grösste Fernsehshow, präsentiert von Thomas Gottschalk, kommt wieder», kündigt das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) marktschreierisch an, «am Samstag, 6. November 2021 – mit tollen Wetten, sensationellen Musicacts und grossen Stars auf seiner Couch». Helene Fischer (37) sowie Udo Lindenberg (75) singen, und die männliche Hälfte von ABBA sitzt neben Gottschalk (71), der die Sendung von 1987 bis 1992 und von 1994 bis 2011 moderierte.

Herkömmliches Fernsehen ist wie ein Festnetz-Telefon

Schliesslich will man wieder neugierige Massen vor die Bildschirme locken. Doch funktioniert diese Masche noch im Internetzeitalter? Kann das ZDF gegen Streamingdienste wie Google Play, Disney+ oder Sky Show bestehen? Kann es ein Millionenpublikum begeistern, wenn jede und jeder sein eigenes Programm zusammenstellen kann? Kann es alle gleichzeitig vor den Fernseher locken? Fixer Zeitpunkt statt Netflix?

Tatsache ist: Die Samstagabendkiste schlitterte über die Jahre stetig bergab. Schalteten 1985 auf dem Höhepunkt 23,4 Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum für «Wetten dass..?» auf ZDF, waren es 2000 noch 13,8 Millionen, und bis zur Einstellung der Sendung im Jahr 2014 halbierte sich der Wert nochmals auf 6,6 Millionen. Die Massen wendeten sich vom Massenmedium ab; zurück blieb ein mittelmässiges Medium; XL schrumpfte zu M.

Ein Schrumpfungsprozess, der nicht nur diese einzelne deutsche TV-Show betrifft, sondern die ganze Fernsehwelt. «US-Einschaltquote bei Oscar-Verleihung auf neuem Rekordtief», schreibt der «Tages-Anzeiger» schon 2018, und «Spiegel Online» doppelt nach: «Dem klassischen TV rennen die Zuschauer weg.» Das Verfolgen eines festgelegten Programms zu festgelegten Zeiten scheint nicht mehr zeitgemäss.

Reed Hastings (61), Gründer und Geschäftsführer von Netflix, vergleicht das herkömmliche Fernsehen mit einem Festnetz-Telefon. Er verweist darauf, dass diese Geräte zwar noch überall vorhanden seien, sie in Zeiten von Smartphones aber nicht mehr benutzt würden. Hastings geht daher davon aus, das herkömmliche Fernsehen werde bald von Streamingdiensten abgelöst.

Gemeinsame und gleichzeitige Erlebnisse gehen verloren

«Video Killed the Radio Star» war 1980 zu Beginn von MTV. Heute tötet Video on Demand ganze TV-Stationen. In Anlehnung an Broadcasting für Rundfunk nennt US-Publizistin Christine Rosen (48) unser Zeitalter denn auch «The Age of Egocasting» – das Ich stehe im Mittelpunkt, individualisiere und fragmentiere die Rezeptionsweise. Im Internetzeitalter gehen die gemeinsamen und gleichzeitigen Erlebnisse verloren.

Der Verlust vergrössert sich durch Endgeräte, über die wir Informationen konsumieren. Mit dem Smartphone hat heute jeder seinen eigenen Bildschirm im Hosensack. «Da keiner weiss, was der andere sieht, findet ein Gedankenaustausch nicht statt», so der französische Wirtschaftswissenschaftler und Autor André Gauron (77). Zwar könne man immer noch erzählen, was man im Fernsehen gesehen habe, aber der andere könne nicht reagieren, da es keine gemeinsamen Bezugspunkte mehr gebe.

«Voraussetzung für eine ausführliche Kommunikation im Anschluss an und über eine Serie sei ein gemeinsamer Kenntnisstand über den bisherigen Verlauf», schreibt der deutsche Medienwissenschaftler Oliver Strecker in seinem Buch «TV im Internetzeitalter» (2016). Dieser gemeinsame Kenntnisstand scheine bei den Streamingdiensten durch das Prinzip des zeitlich individuellen Abrufs erschwert zu werden.

Ein sendungsbezogener Austausch finde wegen der Exklusivität der Angebote nur innerhalb der jeweiligen Kundenkreise der verschiedenen Anbieter statt. «Es verbreitete sich ein Fernsehen, das in Interessengebiete gegliedert ist und gezielt kleinere Zuschauergruppen anspricht», so Strecker. Besonders im Vergleich zur üblichen Nutzungsweise des Fernsehens in den 1950er-Jahren – als es nur ein Programm gab, das alle TV-Besitzer vollständig verfolgten – sei dies ein völlig anderes Fernseherlebnis.

Gipfelitunken, Seeungeheuer Urnie und «Söll emol cho»

«Früher schaute jeder die Tagesschau und anschliessend den Spielfilm oder die Gameshow», so Gauron. «Somit gab es allgemeinverbindlichen Gesprächsstoff.» Und Strecker präzisiert, dass die Menschen in den Anfangszeiten des Mediums das Programm wohl deshalb vollständig verfolgten, weil die Fernsehsendungen stets zu den Gesprächsthemen beim Smalltalk unter Freunden, Bekannten oder Kollegen zählten. «Hatte man sie nicht gesehen, konnte man oft nicht mitreden.»

Gipfelitunken, Seeungeheuer Urnie und «Söll emol cho»: Diese Filmchen mit versteckter Kamera aus der TV-Show «Teleboy» des Schweizer Fernsehens sind in den 1970er-Jahren das Thema, über das die ganze Nation lacht. Und da Videorecorder damals noch wenig verbreitet sind und sich das Fernsehprogramm noch nicht zurückspulen lässt, versammeln sich am Samstagabend ganze Familien vor den Fernsehgeräten, um die neuesten Streiche von TV-Entertainer Kurt Felix (1941–2012) zu sehen.

«Teleboy» ist DER Strassenfeger der Schweiz und zieht mit der Sendung vom 13. September 1975 noch mehr Menschen in seinen Bann als das Rekord-«Wetten dass ..?» von 1986: über zwei Millionen – annähernd die Hälfte der damaligen Bevölkerung in der Deutschschweiz! «Im ‹Teleboy› war fast alles wie gehabt», sagte Felix einmal in einem Interview. «Als absoluter Renner stellte sich dann überraschend ‹die versteckte Kamera› heraus. Diese Filme wurden deshalb mehr ins Zentrum gestellt.»

Die flehentlichen «Söll emol cho»-Rufe des Thurgauer Rentners sind dadurch in der Schweiz bis heute ein geflügeltes Wort: Er hält eine Fernsteuerung eines fliegenden Modellflugzeugs in Händen, weil der Besitzer kurz austreten musste. Was der Ostschweizer nicht wusste: Aus einem Versteck steuert ein anderer das Flugzeug und vollführte halsbrecherische Pirouetten – ein wahrer Nervenkitzel!

Mike Müller glaubt noch an das herkömmliche Fernsehen

«Fernsehen war schon immer ein soziales Ereignis», schreibt Strecker in seinem Buch «über die Faszination des herkömmlichen Fernsehens und dessen Zukunftsperspektiven». Unter anderem deshalb sei das Fernsehgerät immer noch zentraler Treff- und Anziehungspunkt in den meisten Haushalten. «Es erzählt – für alle zugänglich und verständlich – Geschichten aus dem Leben, was ihm auch die Bezeichnung ‹modernes Lagerfeuer› eingebracht hat.»

Nicht erst Streamingdienste löschen dieses Feuer nach und nach. Schon die Fernbedienung machte uns zu Teleflaneuren, mit der wir bequem von Sender zu Sender schlendern konnten. Und später kam die Mode auf, Fernseher in Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer aufzustellen – vorbei die Zeiten, in denen sich die ganze Familie auf ein gemeinsames Programm einigen musste.

Eine Entwicklung, die der Schweizer Schauspieler Mike Müller (58) bedauert. «Es braucht auch in Zukunft gemeinsame Ereignisse, über die wir reden können», sagte er in einem Interview. «Deswegen bin ich überzeugt, dass das traditionelle, lineare Fernsehen nicht verschwindet.» Das Bedürfnis, dass viele gleichzeitig etwas erleben – eine Unterhaltungssendung, ein Sportereignis –, über das man am nächsten Tag im Büro zusammen reden könne, werde bleiben.

Das erkannten bereits Onlineanbieter wie Netflix. Immer wieder setzen sie statt ganzer Staffeln einzelne Episoden einer Serie ins Netz, und zwar stets am gleichen Wochentag zum selben Zeitpunkt. Da Streamingdienste international agieren, kommen über die Länder verteilt erneut viele Menschen zusammen. Ob aber national je wieder die Millionenmarken der Strassenfeger «Teleboy» oder «Wetten dass ..?» erreicht werden, bleibt mehr als fraglich.


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