Zum 25. Juli
Der Zeitzeuge und Chronist Elias Canetti ist vor 120 Jahren geboren

Vor 120 Jahren wurde der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti geboren. Aus diesem Anlass erscheinen die ersten zwei Bände einer neuen Werkausgabe. Zürich spielt darin eine zentrale Rolle.
Publiziert: 25.07.2025 um 06:41 Uhr
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Aktualisiert: 25.07.2025 um 13:20 Uhr
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Der Schriftsteller, Theoretiker und Nobelpreisträger Elias Canetti erhält eine neue Zürcher Werkausgabe. Im Jahresrhythmus sollen jeweils zwei Bände erscheinen. (Archivbild)
Foto: MANFRED REHM
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Keystone-SDADie Schweizer Nachrichtenagentur

Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 im bulgarischen Ruse als Sohn einer sephardisch-jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Die Jugendjahre verbrachte er in Wien, Zürich und Frankfurt. Abermals in Wien studierte er Chemie und begann literarisch zu arbeiten, bevor er 1938 vor den Nazis nach London floh und britischer Staatsbürger wurde. Ab 1971 lebte er bis zu seinem Tod 1994 in Zürich, wo er auf dem Friedhof Fluntern begraben ist.

Die geraffte Biografie weist auf einen Weltbürger hin, der früh ein scharfes Sensorium entwickelte, das ihn zum Ohren- und Zeitzeugen prädestinierte. Das Hören habe er in Wien von Karl Kraus gelernt, dessen «ergebener Sklave» er geworden sei, schreibt Canetti in «Die gerettete Zunge».

Rückschau und Zeugenschaft sind die beiden Kernelemente, mit der die neue Zürcher Ausgabe von Canettis Werk einsetzt. Die ersten beiden Bände «Der Ohrenzeuge» (1974) und «Die gerettete Zunge» (1977) führen ins Zentrum seines Wirkens und vor allem seines späten Erfolgs, der ihm in Zürich zuteilwurde.

Während Jahrzehnten blieb Canetti eine wenig beachtete Randfigur im Literaturbetrieb. Seine Bücher wie der explosive Erstling «Die Blendung» (1935) oder die sozialpsychologische Studie «Masse und Macht» (1960) erzielten kaum Resonanz.

Mit dem autobiografischen Bericht «Die gerettete Zunge» erreichte Canetti 1977 dann erstmals ein grosses Publikum. Das Buch wurde zum Welterfolg, und die Literaturkritik urteilte mehrheitlich enthusiastisch. Nicht zuletzt deshalb erhielt Canetti 1981 den Nobelpreis für Literatur zuerkannt.

Das Erfolgsbuch setzt gleich eingangs mit einem traumatischen Erlebnis ein, worauf der Titel «Die gerettete Zunge» anspielt. «Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht», beginnt der Bericht. Vor diesem Rot eines Teppichs tritt ein unbekannter Mann auf, der Geliebte des Hausmädchens. Mit einer Klinge droht er dem zweijährigen Jungen, dass er ihm Zunge abschneide, damit er nichts ausplaudern könne. «Die Drohung mit dem Messer hat ihre Wirkung getan, das Kind hat zehn Jahre darüber geschwiegen.»

«Die gerettete Zunge» steht in Canettis Werk also in mehrerer Hinsicht für einen Anfang, bei dem auch Zürich eine wichtige Rolle spielt. Mit Mutter und Geschwistern lebte er hier von 1916 bis 1921. Er besuchte im Rämibühl das Gymnasium und erlebte hier die «einzig glücklichen Jahre, das Paradies».

Nachdem im August 2024 «die letzten von ihm verfügten Sperren ausgelaufen» sind, wie die Canetti Stiftung auf ihrer Webseite schreibt, ist nun der gesamte Nachlass zur Veröffentlichung frei. «Die seither zugänglichen Nachlassteile ermöglichen eine Neubewertung des Werkes und machen eine Neuausgabe notwendig.»

Daraus schöpft die Zürcher Ausgabe. Im Jahresrhythmus sollen jeweils zwei Bände erscheinen. Den Anfang machen die beiden genannten Bände. Grundlage für die neue Edition sind die bestehenden verlässlichen Ausgaben, doch sind ältere Fassungen «bis zurück zu den Handschriften» nochmals zurate gezogen worden, um Canettis Schreibung so genau wie möglich zu erhalten.

Für die Leserschaft stärker ins Gewicht fällt der umfangreiche Anhang. Er enthält bisher unpublizierte Passagen wie beispielsweise den Bericht über eine Wanderung auf den Gemmi-Pass 1920. Diese werden in einem ausführlichen Anmerkungsapparat zusätzlich vertieft und kommentiert. Dazu kommen Textzeugnisse zur Entstehungsgeschichte, Nachwort und Register. Im Kern bewahrt die kritische Ausgabe aber den Charakter einer Leseausgabe.

«Die gerettete Zunge» und die fünfzig skurrilen wie subtilen Figurenbilder in «Der Ohrenzeuge» bilden so den Auftakt zu einem Unternehmen, das Canettis schillerndes Werk mit nachgelassenen Aufzeichnungen bereichern wird.*

* Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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