Was früher gang und gäbe war, ist heute die grosse Ausnahme. Die Grossfamilie Frischkopf lebt im Haus «Rigiblick» in Eschenbach unter einem Dach zusammen: Urgrossmutter, Grosseltern, Eltern und Kinder. Kann das gut gehen? Und wie! Die Kinder jedenfalls haben längst gemerkt, dass das Urgrosi im Haus nur Vorteile bringt: Bei der 95-jährigen Mamme im Erdgeschoss dürfen sie nämlich viel länger fernsehen als bei den Eltern im dritten Stock
Text: Sarah Fasolin
Fotos: Tina Steinauer
So einfach ist das: Wenn die Kinder Manuel und Carmen, wohnhaft im badewannenlosen dritten Stock, ein Bad nehmen wollen, dann ziehen sie mit Shampoo und Frotteetuch einfach einen Stock tiefer, zur Grossmutter. Oder noch einen Stock tiefer zur Urgrossmutter. Da hat es nämlich Badewannen. Und wenn die beiden das Theaterfieber packt, dann gehts ebenfalls in den untersten Stock, zum Kleiderschrank von Mamme, der 95-jährigen Urgrossmutter.
Haus «Rigiblick» in Eschenbach LU. Hier wohnen vier Generationen unter einem Dach. Hier lebt Familie Frischkopf: Mamme im untersten Stock, ihr Sohn Walter, 64, und seine Frau Ursula, 60, im zweiten, deren Sohn Thomas, 34, und dessen Frau Cornelia mit den Kindern Carmen, 9, Manuel, 6, und Melina, 8 Monate, zuoberst im dritten Stock.
Hier sucht man vergebens nach Hausordnungen oder Waschplänen; das Zusammenleben der Frischkopfs ist spontan und selbstverständlich. So, wie man es sich in anonymen Grossstadtsiedlungen an einsamen Abenden wahrscheinlich manchmal herbeisehnt.
Mamme setzt Wasser auf für die Makkaroni, sie kocht heute zu Mittag, grad für das ganze Haus. Da steht sie am Herd, die Schürze mit den Kirschen drauf um die Hüfte gebunden, schält und hackt Zwiebeln und versteht nicht recht, wieso man staunt. Gekocht habe sie schon immer gern. Da spielt es ihr keine grosse Rolle, wie viele mit am Tisch sitzen. So ist das im Rigiblick. Morgen wird Mamme dafür bei der Schwiegertochter Ursula essen oder bei der Grossschwiegertochter Cornelia.
Urenkel Manuel steht neben Mamme und versucht, die Rahmpackung aufzuschneiden. «Nid chosle, gäu», sagt Mamme. Es geht nicht mit der kleinen Schere, Mamme greift zum Fleischmesser und hilft nach. Manuel deckt dafür auf, Teller, Besteck, Apfelmus. Um die Gläser von den Tablaren zu holen, klettert er auf die Ablage des Küchenschrankes. In Stock zwei und drei würde er deswegen wohl ermahnt, Mamme lässt ihn mit einem «Passisch aber uf, gäu» gewähren.
«Im Alter wird man toleranter», sagt Miggi «Mamme» Frischkopf. «Mit meinen eigenen Kindern war ich streng, so streng, dass ich mich heute manchmal frage, ob ich nicht etwas lockerer hätte sein können. Mit den Enkeln war ich schon viel legerer und die Urenkel dürfen sowieso machen, was sie wollen. Nur: Sie dürfen mir nichts kaputtmachen, sonst bin ich dann nicht so ...»
Manuel macht ihren Satz fertig: «... einfach!»
Mamme: «Ja genau. Einmal haben sie mit der Nähmaschine gespielt, danach war alles verstellt.»
Manuel: «Das war nicht ich, das war Carmen!»
Mamme (lacht): «Ja ja, und immer war es der andere. Manchmal hinterlassen sie mir eine Unordnung ...»
Manuel: «... aber nur, weil wir die Dinge noch brauchen, später.»
Und helfen?
Manuel: «Ich helfe der
Mamme viel.» Mamme: «Das stimmt. Wenn ich Suppe mache, dann macht er mir den Maggi-Würfel auf, zum Beispiel. Und vor dem Kindergarten füttert er mir die Hühner, gäu?»
Familienformen wie die der Frischkopfs sind selten in der Schweiz – und werden immer seltener, wie ein Blick auf die Statistik zeigt: 1970 lebten noch 4,1 Prozent aller Kinder mit mindestens einem Grosselternteil, 2000 nur noch 1,4 Prozent. Die Kurve mit der Anzahl Mehrgenerationenhaushalten tendiert kontinuierlich gegen null, wie die Studie «Familiale Lebensformen im Wandel» zeigt, die vor einem halben Jahr vom Bundesamt für Statistik publiziert wurde. Die jüngeren Generationen nehmen ihre Eltern «seltener und wenn, dann vergleichsweise spät in den eigenen Haushalt auf», heisst es. Der Zürcher Soziologieprofessor und Generationenforscher François Höpflinger sagt dazu: «Es ist nicht in erster Linie so, dass die Kinder ihre Eltern nicht aufnehmen wollen, sondern die ältere Generation, darunter auch hochbetagte Menschen, möchte möglichst lange selbständig bleiben.»
Die Frischkopfs sind kein klassischer Mehrgenerationenhaushalt. Ihre Lebensform nennt sich «Hausgemeinschaft», weil sie drei separate Wohnbereiche aufweist. Doch auch diese sind in der Schweiz spärlich gesät, am ehesten noch, so Höpflinger, in ländlichen Gegenden.
Mamme hat dieses Haus so nicht geplant, als sie es 1941 mit ihrem Mann Xaver kaufte. Damals brauchte die siebenköpfige Familie mehr Platz und man erstand den Rigiblick in Eschenbach.
Walter Frischkopf: «Alle meine Geschwister zogen mit der Zeit weg, ich war der Einzige, der blieb. Als unser Sohn Thomas heiratete, haben wir den obersten Stock ausgebaut. So hat sich das ergeben, dass wir jetzt alle hier leben.» Und mitunter auch arbeiten: Walter Frischkopf war bis 1990 als selbständiger Viehhändler tätig, liess sich dann zum Masseur umschulen und richtete im Rigiblick im zweiten Stock ein Massagezimmer ein, das er noch heute in reduziertem Pensum betreibt.
«Wenn ich Massagetermine habe, sage ich Cornelia manchmal, dass in dieser Zeit die Kinder nicht wie wild herumturnen sollen.» So komme man tipp topp aneinander vorbei. «Aus meiner Sicht kommt es hier kaum zu Konflikten und wenn, dann gehe ich rauf und wir bereden die Sache.» Zum Beispiel, als im Gang die Lampe von der Decke fiel, weil die Kinder oben Weitsprung übten.
Seine Frau Ursula Frischkopf wuchs in einem Wohnblock in der Stadt Zürich auf. Vor 37 Jahren zog sie in den Rigiblick und dachte: «So nahe bei den Schwiegereltern! Wie wird das gehen?» In einer Blockwohnung dreht man den Schlüssel und ist für sich. In einer Hausgemeinschaft aber «wird viel eher gefragt, wo man war und was man macht», sagt Ursula Frischkopf. Wie findet man das richtige Mass von Nähe und Distanz, ohne jemanden zu verletzen und die eigenen Bedürfnisse gleichzeitig ernst zu nehmen? «Vor allem in den ersten Jahren gab es einige schwierige Momente, aus denen wir aber gelernt haben.»
Als Sohn Thomas mit seiner Frau Cornelia im dritten Stock einzog, sagte sie sich deshalb: «Ich halte mich bewusst auf Distanz, damit sie ihr eigenes Familienleben führen können.» Obwohl auf allen drei Stockwerken die Eingangstüren grundsätzlich offen sind, klopft Ursula Frischkopf stets an. «Wenn ich mal einen ungestörten Mittagsschlaf möchte, erlaube ich mir unsere Wohnungstüre abzuschliessen.» Damit die anderen dies nicht falsch verstehen, hat sie es allen erklärt, «und so stimmt es nun für alle».
Im ersten Stock sind die Älplermagronen gar und Mamme tischt auf. Man rückt sich auf dem Taburettli an den Tisch, Walter betet. Thomas Frischkopf, Metzger und Viehhändler, hat die Nacht über gearbeitet, das Mittagessen ist gleichzeitig sein Frühstück. Er sagt, er sei harmoniebedürftig, genau wie sein Vater auch, und dies sei wohl der Grund, dass ihm keine Nachteile in den Sinn kommen, wenn er an das Leben im Rigiblick denke. Irgendwie gehörten alle hierhin. «Wenn Mamme mal nicht hier ist, dann dünkt es mich so leer. Sie ist rüdig hilfsbereit und kocht die beste Fleischsuppe.» Auch mit den Eltern habe er sich immer gut verstanden, «und dass meine Mutter keine Schwiegermutter ist, die dauernd etwas stürmt oder nörgelt, trägt sicher zu diesem entspannten Klima bei». Idylle pur im Rigiblick?
Cornelia Frischkopf denkt nach. Auf dem Bauernhof im Entlebuch, wo sie aufwuchs, lebten ebenfalls die Grosseltern auf dem Hof: «Ich bin mich an diese Art von Leben gewöhnt und es entspricht mir.» Die kleine Melina zwischendurch für den Mittagsschlaf zu Mamme zu bringen, wenn es huddlet und chutet, beim Schwiegervater das Auto ausleihen und die Kinder von der Schule abholen, abends mit Thomas mal spontan ausgehen – bei einem individuellen Lebensstil ist all das schwieriger. Alles rosarot malen möchte sie dennoch nicht. «Sicher gibt es auch Meinungsverschiedenheiten. Ich versuche dann einfach, mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen.» Zum Beispiel, wenn Mamme der Meinung ist, Cornelia habe beim Hühnermisten etwas gar viel Sägemehl gestreut. Oder wenn sie gemeinsam kochen und Mamme möchte noch etwas Butter unter die Salzkartoffeln ziehen und Cornelia findet, das sei doch nicht nötig. «Doch es handelt sich jeweils um Kleinigkeiten und wenn ich vergleiche, was für schwierige Verhältnisse in anderen Familien herrschen, dann haben wir es hier doch wirklich sehr gut», sagt Cornelia.
Am Nachmittag machen sich Cornelia und Ursula Frischkopf für den Einkauf parat. Für Getränke müssen sie dabei nicht sorgen, dies erledigt Manuel. Auf seinem Kinder-Traktor hat er die leeren Harassen schon geladen und pedalt nun Richtung Getränkehandel, der gleich um die Ecke liegt. «Das mach i gärn», sagt er, zirkelt retour in den Getränkehof, lädt Mineral und Rivella, bezahlt und macht sich auf den Heimweg. Das Beste daran: Für das «Benzin» erhält er jeweils einen Batzen.
In der Zwischenzeit hütet Mamme Melina. 95 Jahre liegen zwischen den beiden. «Gäu, Schätzeli», sagt sie und löffelt der Kleinen Himbeerjoghurt ein. «Ich habe nie gedacht, dass mein Leben im Alter mal so aussehen wird, aber jetzt, wo es so ist, habe ich grosse Freude. Die Kinder sind wie eigene und doch sind sie es nicht. Ich sage manchmal: Die kleine Zehe ist noch von mir.» Melina greift nach dem Löffel mit dem Joghurt und streicht sich die Hälfte ins Gesicht. Mamme lacht. «Gäu, hesch gnue.» Die Nähe zur Familie ihres Sohnes und Enkels macht es möglich, dass Mamme noch selbständig lebt. Walter übernimmt die meisten Chauffeur-Angelegenheiten, bringt Mamme zum Einkaufen und holt sie wieder ab, fährt sie zu den beiden Töchtern nach Basel und nimmt sich Zeit für jeden Arzt- oder Coiffeurtermin. Cornelia und Ursula helfen ihr im Haushalt und sind für sie da, wenn sie krank ist. «Es ist ein Geben und Nehmen», sagen die Bewohner vom Rigiblick.
Als Carmen von der Schule nach Hause kommt, schaut sie heute zuerst schnell im ersten Stock vorbei, trinkt ein Glas Pepita gemischt mit Mineralwasser, bei Mamme seit Jahren das Standardgetränk.
Carmen: «Mamme, weisst du noch, als wir mal ein Fest hatten hier und wir uns mit deinen Kleidern verkleidet haben?»
Mamme: «Jaja, das weiss ich noch. Meine Handschuhe, Hüte und Blusen habt ihr angezogen. Euch kommt öppe mal Seich in den Sinn. Plötzlich kommt ihr wieder auf die Idee, mit den Rollschuhen durch die Wohnung zu fahren.»
Carmen: «Das dürfen wir eben nur bei dir. Und auch unbegrenzt fernsehen dürfen wir nur hier.»
Anschliessend geht Carmen zu Grossmutter Ursula, die vom Einkauf zurück ist, in den zweiten Stock, um ein bisschen zu malen. Carmen liebt das Malen und auf dem Maltischchen bei «Ursi», wie sie die Grossmutter nennt, liegt immer alles schon parat. «Wir könnten manchmal eine richtige Vernissage veranstalten, gell Carmen», sagt Ursula Frischkopf, Carmen nickt. Auch ein Puzzle liegt immer auf dem Tisch, hier suchen Enkel und Grossmutter jeweils gemeinsam nach den passenden Teilchen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Enkelkinder so nahe sind, lebt Ursula Frischkopf, die aus der Stadt Zürich kam, trotzdem lieber hier, als in einem Wohnblock in einem Wohnquartier, irgendwo.