Im Mittelalter sorgten himmelschreiende Missstände in der katholischen Kirche dafür, dass in Zürich die Reformation nicht mehr aufzuhalten war. Das geschah vor genau 500 Jahren. Während die Reformierten gerade ihr grosses Jubiläum begehen, brodelt es heute bei den Katholiken im Kanton gewaltig. «Die katholische Kirche steht in Flammen», lautet der Warnschrei, mit dem sich die Zürcher Katholiken in einem offenen Brief nun an Papst Franziskus wenden.
Eine halbe Seite hat der Zürcher Synodalrat, also die Exekutive der katholischen Kirche im Kanton, gestern in diversen Zeitungen gekauft, um sexuelle Missbräuche und eine lebensferne Sexualmoral in der Kirche anzuprangern. Unterzeichnet hat den Brief neben Generalvikar Josef Annen auch Synodalrats-präsidentin Franziska Driessen-Reding (49). Im Gespräch mit BLICK sagt sie: «Die Verzweiflung in den Gemeinden ist gross.»
«Am Pflicht-Zölibat festzuhalten, ist falsch»
Gerade wenn es um die immer neu auftretenden Fälle von Übergriffen durch Geistliche in der katholischen Kirche geht, sei eine gewisse Ohnmacht spürbar, erklärt die höchste Katholikin des Kantons und betont: «Es reicht nicht mehr, sich einfach immer nur für die Vorfälle zu entschuldigen.» Stattdessen müsse ein grundsätzlicher Wechsel im System her. «Die Leute brauchen das jetzt!»
Als Wurzel allen Übels machen die Zürcher Katholiken die alten, verkrusteten Strukturen und einen nicht mehr zeitgemässen Umgang mit der Sexualität aus. «Eine verdrängte und unreife Sexualität ist der Boden, auf dem der Missbrauch gedeiht», steht im offenen Brief. Und die Synodalratspräsidentin wird noch konkreter: Man könne nicht verteufeln, was heute in der Gesellschaft völlig etabliert sei. «Wenn wir an alten Regeln wie dem Pflicht-Zölibat festhalten, ist das falsch.» Auch der Ausschluss von Frauen von Posten wie dem Pfarrersamt müsse man endlich mal in Frage stellen.
Hoffen auf die Huonder-Nachfolge
Rund 6000 Zürcher sind im vergangenen Jahr aus der katholischen Kirche ausgetreten. Und jene, die noch geblieben sind, machen schwere Zeiten durch. «Heute müssen sich viele rechtfertigen, dass sie für die katholische Kirche arbeiten. Das darf nicht sein», sagt Driessen-Reding. Das veröffentlichte Schreiben soll darum auch ein Signal an die Menschen senden: «Die katholische Kirche nimmt das alles nicht einfach so hin, sondern handelt auch.» Das sei man den vielen Leuten, die sich jeden Tag engagieren, schuldig.
Die Katholiken in Zürich proben mit dem öffentlichen Brief den Aufstand gegen ganz oben. An Ostern tritt mit Vitus Huonder (76) der Bischof des Bistums Chur ab, dem auch Zürich angehört. Vom Nachfolger erwartet Driessen-Reding nichts anderes, als dass auch er sich ohne Wenn und Aber für eine neue und moderne katholische Kirche einsetzt.
Protestbrief bekommt viel Beifall
Bei den Gläubigen kommt der Aufschrei aus Zürich offenbar gut an. «Bei uns sind fast ausschliesslich positive Rückmeldungen eingegangen», sagt Driessen-Reding. Ob der Appell aber auch etwas bewirkt, wird sich zeigen. Für die Zürcher Katholiken lieber früher als später. Der offene Brief endet mit einem eindringlichen Appell: «Papst Franziskus, die Zeit des Zuwartens ist abgelaufen. Gemeinsam müssen wir handeln.»