Unheimliche Begegnung
Der Kannibale und ich

Nina Hermann

Von Nina Hermann (Text)
Bild: Keystone


Ein Mann aus Berlin verschwindet, der Lebensgefährte und eine Journalistin gehen zusammen auf die Suche. Warum sie den Mann nicht finden konnten, wird erst klar, als Armin Meiwes verhaftet wird. Nun steht der «Kannibale von Rotenburg» wieder vor Gericht. SIE+ER-Reporterin Nina Hermann erzählt ihren ganz eigenen Part in der Geschichte

In einer Stadt wie Berlin verschwinden täglich Menschen. 98 Prozent der Vermissten tauchen früher oder später wieder auf, doch mit derlei wollte sich der junge Mann nicht vertrösten lassen, den ich am 13. März 2001 in der Redaktion einer Berliner Tageszeitung am Telefon hatte: «Bitte verstehen Sie doch», sagte eine verzweifelte Stimme, «es ergibt einfach keinen Sinn, dass er weg ist.»

In der Leitung ist Rene J. Vier Tage sind vergangen, seitdem sein Lebensgefährte am Morgen die gemeinsame Wohnung verliess und am Abend nicht zurückkehrte. Die Polizei tappt im Dunklen, Rene wünschte sich einen Artikel in der Zeitung, damit Hinweise aus der Bevölkerung kommen. Der Vermisste heisst Bernd Brandes, ist 43, Ingenieur und Abteilungsleiter bei Siemens, «ein Mensch, der immer alles unter Kontrolle hat», notiere ich die Worte von Rene J. und fahre zu ihm nach Berlin-Tempelhof.

Die Wohnung unter der Dachschräge ist mit Teppich ausgelegt und klinisch sauber. Ich erinnere das, weil mich das Gefühl beklemmte, allein durch meine Anwesenheit diesen Ort zu beschmutzen. Schon mit dem Verrücken eines Stuhles ein perfektes Ordnungssystem zu zerstören. Statt Zeichen gelebten Lebens gab es Hightech. Grosser Fernseher, teure Stereoanlage, alles in Silber-Chrom, alles neu. «Wir waren am liebsten zu Hause», sagte Rene. Er ist Ende 20, Bäcker, ein unauffälliger Typ mit sanftmütigen Zügen und tiefen Augenringen. Seit der Freund weg ist, findet er nicht mehr in den Schlaf.

Seit zwei Jahren sind sie ein Paar, auf einer Party hatte er Bernd Brandes kennen gelernt, war bald bei ihm eingezogen. Einen Mann, der sein Leben im Griff hatte, zuverlässig und korrekt, so einen hatte Rene gesucht und in Brandes gefunden. «Wir konnten uns absolut vertrauen.» Nur kann sich der Jüngere überhaupt nicht erklären, warum der Freund ihm nicht erzählte, dass er sich für den 9. März, den Tag seines Verschwindens, frei genommen hatte.

Selbstmord? Niemals, sagt Rene, es gab keine ernsten Probleme und keine Anzeichen. Ein Verbrechen in der Stricher-Szene? Niemals, in diesen Kreisen hätte Bernd nicht verkehrt. Ein anderer Mann? Nein, er sass doch jede Nacht vor seinem Computer. Wir fahren ihn hoch. Brandes hat die meisten Dateien gelöscht, ein einziges Foto findet sich noch abgespeichert: ein Ganzkörperbild vom Vermissten am Strand, in knapper Badehose und Pose. Später wird man wissen, wem er dieses Foto mailte.

Am nächsten Tag erfährt Rene J. von der Polizei, dass Brandes am Morgen des 9. März noch von einem Bekannten mit Handy am Ohr im U-Bahnhof Wilmersdorfer Strasse gesehen wurde. Wir fahren zusammen hin und grübeln: Wohin kann er von hier gewollt haben? Mit wem könnte er telefoniert haben? Es gibt keine Anhaltspunkte, keine faktischen und keine in der Fantasie. Die Zeitung druckt eine kleine Vermisstenanzeige. Rene verspricht, sich bei Neuigkeiten zu melden.

Lange tut sich nichts. Nur ein deutsches Männermagazin nimmt sich dem Schicksal von Brandes an, spekuliert in einem Artikel über heimliche Aussteiger, dass der verschwundene Ingenieur vielleicht gerade fröhlich im lauen Atlantikwasser planscht.

Im Dezember 2002, ich hatte mittlerweile den Arbeitgeber gewechselt, ruft mich ein ehemaliger Kollege aus Berlin an. Er erinnerte sich, dass ich «doch mal einen verschwundenen Siemens-Typen gesucht» habe, und liest mir einen Polizeifax vor. Die Verbindung ist schlecht, ich höre «Internet», «Schlächter», «Treffen», «Rotenburg», «Penis abgeschnitten», «aufgegessen». Am nächsten Tag titelt die Zeitung: «Das ist Armin, er hat Bernd aus Berlin gegessen».

Ich suchte damals in alten Notizblöcken nach Renes Handynummer, allerdings vergeblich. Wahrscheinlich hätte ich mich eh zu sehr geschämt und es unterlassen: den Griff zum Hörer und die Frage: «Hallo, hier ist die Journalistin, erinnerst du dich noch?»

Die Geschichte geht um die Welt. Bis ins kleinste Detail ist der Tag rekonstruiert, an dem Bernd Brandes vom Berliner Bahnhof Zoo den Zug nach Kassel nimmt, dort den Computer-Techniker Armin Meiwes trifft, der ihn mitnimmt in sein riesiges, windschiefes Gutshaus bei Rotenburg (Hessen). Was hier passieren soll, haben die Männer bei ihren Chats im Internet genau besprochen: die Weise, mit der Meiwes den Besucher entmannen soll. Wie dieser auszubluten wünscht. Dass er möglichst zeitnah verzehrt werden möchte.

Hätte Meiwes nicht im Kannibalen-Internet-Forum mit der vollzogenen Umsetzung des Planes geprahlt – er wäre wohl noch ein freier Mann. So aber gruseln sich selbst die Amerikaner vor «The Cannibal of Rotenburg», dem Mann, der gleich kommen wird. Es ist Montagmorgen, der 16. Januar 2006, ich sitze eingeklemmt zwischen rund siebzig Journalisten in Saal 165C des Landgerichts von Frankfurt am Main.

Achteinhalb Jahre hatte Meiwes im Januar 2004 bekommen, wegen Totschlags, aber der Bundesgerichtshof hatte das Urteil aufgehoben: Das damals zuständige Kassler Gericht habe «rechtsfehlerhaft» verschiedene Mord-Merkmale verworfen. Für Kannibalismus gibt es keinen Strafparagrafen. Zudem ist es für das Opfer unüblich, sich freiwillig anzubieten. Die Anklage plädiert wieder auf Mord und lebenslang, in diesem zweiten Prozess mit erheblich besseren Chancen.

Seit Kindertagen waren Kannibalen für mich schwarz, trugen Baströckchen und tanzten um ein Feuer, auf dem ein riesiger Topf Suppe mit Menschenfleisch kochte. In einem Schulbuch hatte ich solch ein Foto gesehen. Nun aber gehörte ein Kannibale zu den alten Bekannten. Zu penetrant ist mir Meiwes’ Gesicht aus den Gazetten und Sendern entgegen- gesprungen, zu gut haben mich die Kollegen in ihren Beiträgen mit ihm vertraut gemacht. Ich kenne seine schmalen, zusammengekniffenen Lippen, sein hohes Kinn und die Tragödien seines Lebens. Im abgestandenen Ambiente des holzvertäfelten Saales nehmen nun die Sachverständigen Platz, ein Psychiater und ein Sexualwissenschafter mit vielen dicken Aktenordnern, in denen auch das frühe Leid des Bernd Brandes dokumentiert ist. Fünf Jahre war er alt, als seine Mutter bei einem Autounfall starb. Der Vater sprach von Selbstmord, der Junge fühlte sich schuldig und die Gutachter vermuten, dass ihm deshalb die eigene, qualvolle Vernichtung als einziger Ausweg erschien, um ihren Tod zu sühnen. Die Fantasie hat ihn schon als Kind getrieben, erzählte Brandes seinem Schlächter kurz vor dem Tod. Die Sehnsucht danach, von einem anderen Mann einverleibt zu werden und in dessen Körper weiterzuleben.

Um 9.38 Uhr kommt der Hauptakteur. In dunklem Anzug, Handschellen und flottem Gang biegt er in den Saal, wirkt schmaler als auf den Fotos und ziemlich gut aufgelegt. Fröhlich plaudert er mit seinen drei Verteidigern, er ist kein Irrer, folgt man den Gutachtern, die ihn trotz «schwerer seelischer Abartigkeit» für voll zurechnungsfähig erklärten.

Es ist der zweite Prozesstag, heute sagt Meiwes aus. Mit tiefer und sonorer Stimme liest er vom eng bedruckten Papier, beginnt in der Kindheit, als er noch «der Wonneproppen» der Eltern war. Wie ein Märchenonkel schaut er hin und wieder über den Rand der Lesebrille zum Vorsitzenden Richter, senkt am Ende seiner Sätze stets die Stimme. Er kommt zum frühen Verlust des Vaters und zu seinem jungen Bruder Frank, den es nur in seiner Vorstellung gab und dem er alles erzählen konnte. Von dem er sich bald wünschte, «er könnte ein Teil von mir werden.» Bereits als Zehnjähriger berauschte ihn die Vorstellung, «einen schönen Jüngling zu essen».

Meiwes bleibt Junggeselle, pflegt die Mutter, eine verhärmte Frau, bis zu ihrem Tod im Jahr 1999. Danach nimmt er im Internet Kontakt zu hunderten Gleichgesinnten auf, vereinbart Treffen, von denen die meisten allerdings platzen. Detailliert beschreibt er den Tag mit Brandes, im Ton des lieben Onkels, das neunstündige Blutbad bis der Berliner starb. Der habe ihn zu den Taten gedrängt, betont Meiwes, ihn gar wegen Unprofessionalität beschimpft: «Wenn du in meinem Team bei Siemens gewesen wärst, dann hätte ich dich schon längst entlassen.» Er scheint deswegen immer noch ein wenig gekränkt. Die Verteidigung plädiert auf «Tötung auf Verlangen», das bringt maximal fünf Jahre.

Nachdem der Richter eine «kurze Raucherpause» eingeschoben hatte, eröffnet er mit einem lapidaren «Wir waren bei ausgeweidet, halbiert und ausgehangen. Wie ging es dann weiter, Herr Meiwes?» Der suchte, als er noch von Brandes’ Fleisch im Kühlschrank zehrte, nach neuen Freiwilligen.

Das Unfassbare fasziniert, deshalb buhlten dutzende internationale Verlage und Filmproduzenten um die Rechte an der Geschichte. Kannibalismus – das letzte grosse Tabu darf jetzt gebrochen werden. Der britische Schauspieler Hugh Grant etwa, der meist den Trottel mimen muss, wollte unbedingt die Filmrechte, die Rolle des Schlächters und Brad Pitt verspeisen. «Brad wäre ideal», so Hugh Grant, denn: «Wer würde nicht gern Brad Pitt essen?» Aus den Träumen wurde bislang nichts, dafür drehte eine amerikanische Produktionsfirma den Streifen «Rotenburg» (Orginaltitel), laut Pressemitteilung «ein an Intensität kaum zu überbietender Real-Horrorfilm, der im wahrsten Sinne unter die Haut geht». Im Frühjahr soll er in die Kinos kommen, doch Armin Meiwes will das verhindern; er hat die Rechte an seiner Geschichte einer Hamburger Firma überlassen.

Nach der Mittagspause wird der Angeklagte vom Gericht und den Sachverständigen befragt. Dabei kommt noch Heiterkeit auf. Etwa, als Meiwes erläutern soll, warum er damals befürchtet habe, ihm könne bei seinen geheimen Verabredungen etwas zustossen. «Na, ich hätte doch auf einen anderen Kannibalen treffen können», ganz kurz scheint es ihn zu schaudern, dann Gelächter oben auf der Pressetribüne, Schmunzeln beim Richter. Mir kommt das, worüber hier gesprochen wird, mit den Stunden immer normaler vor. Auch nicht schlimmer als im Horrorfilm. Vielleicht auch nicht mehr real.

Am 9. März soll das Urteil gesprochen werden. Exakt fünf Jahre ist es dann her, dass sich Rene aus Berlin am Abend fragte, wo sein Freund bleibt.

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