Darum gehts
- Hirslanden-Klinik schult Personal zu Patientensicherheit und Behandlungsfehlern
- Offene Fehlerkultur und realistische Übungen zur Verbesserung der Patientensicherheit
- 150 Angestellte nahmen an den Schulungen teil
Es sind reale Fälle aus dem Alltag der Hirslanden-Klinik in Zürich, oft harmlos, manchmal aber lebensgefährlich: sogenannte sicherheitsrelevante Ereignisse, nach und nach vom Meldesystem des Spitals erfasst. Pflegeexperte Marius Möller (35), der unter anderem für die Schulung des Pflegepersonals zuständig ist, hat die Vorkommnisse in simulierte Fallbeispiele eingebaut. Vergangene Woche liess er die Szenarien von 150 Angestellten des Spitals in kleinen Teams durchspielen. Sein Ziel: die Erhöhung der Patientensicherheit.
Die Pflegefachleute gruppieren sich um eine Puppe: Sie stellt einen 80-Jährigen dar, der einen Schenkelhalsbruch erlitten hat. Nach der Überführung durch die Rettungsflugwacht aus dem Ausland, so erklärt es Möller an diesem Nachmittag, liegt der Verletzte nun im Spitalbett, eine Infusion im rechten Arm.
Der Raum ist mit Kameras ausgestattet, im Nebenzimmer verfolgen Kolleginnen und Kollegen des medizinischen Personals das Vorgehen auf Bildschirmen. Alles wird aus mehreren Perspektiven aufgezeichnet – zum Zweck der gemeinsamen Analyse und Nachbesprechung.
Nichts ist hier erfunden
Die Grundlagen des Übungsszenarios wurden zwar eigens für Trainingszwecke zusammengestellt, erfunden ist hier aber nichts. Möller: «Die Fehler sind unterschiedlich gravierend, ihre Folgen waren meist Beinahe-Zwischenfälle, selten Komplikationen.»
Die Pflegefachpersonen begegnen in dieser Übung einer Reihe von Risiken und Gefahrensituationen, wie sie immer wieder vorkommen: Die Rollen des Krankenbetts sind nicht blockiert, die Liege nicht mit dem richtigen Namen des Patienten angeschrieben. Und, weitaus schlimmer: Ein falsches Medikament tröpfelt durch die Infusion. Und der alte Mann hat zur Verpflegung offensichtlich Schokolade mit Nüssen erhalten. Ungeachtet seiner Nussallergie. Zudem ist er – obwohl aus Dubai eingeflogen – nicht isoliert untergebracht worden, wie das in solchen Fällen vorgeschrieben ist.
Verwechslungsgefahr bei Medikamenten
Einige der Fehler erkennen die Pflegefachleute. Doch die Verwechslung der Infusionslösung hat wegen der Ähnlichkeit der Verpackungen niemand erkannt. Und obwohl die Unverträglichkeit für den Verletzten ausdrücklich vermerkt wurde, geht dieses riskante Detail auch bei dieser Übung unter.
«Es ist eindrücklich, was alles passiert», sagt eine der Teilnehmerinnen. Vieles sehe man in der Hektik gar nicht – doch genau darin liege der Wert dieses Trainings: Es sensibilisiere für die tägliche Arbeit. Eine andere Pflegefachkraft hält fest, sie habe während dieser Viertelstunde sowohl den Schulungsleiter als auch die Kameras ausgeblendet. Trotz dieser Beobachtung habe sie wie in einer realen Situation gearbeitet: «Wertvoll, diese Übung», so die junge Frau.
Aus dem Nebenraum beobachtet Alfons Url (56) die Gruppe. Er ist Experte für Intensivpflege und leitet an der Klinik Hirslanden die Reanimation. «Man darf alle Fehler begehen, aber man muss sie ansprechen», betont er. Dabei sei die Art der Rückmeldung entscheidend: «Im richtigen Ton kann ich auch Chefärzte auf Fehler hinweisen», hält Url fest.
Damit Behandlungsfehler nicht dazu führen, dass ein Patient wiederbelebt werden muss, schult Url das Personal regelmässig. «Jede verhinderte Reanimation ist eine gute», betont er. Wenn sie im Notfall aber doch nötig sei, müsse jeder Einzelne im Spital richtig handeln. Url: «Deshalb werden alle darin geschult, vom Gärtner bis zur Küchenhilfe.»
Realistisches Szenario
Ob die Bremse am Bett nicht blockiert ist oder der Patient ein falsch dosiertes, vielleicht sogar gefährliches Medikament erhält, kann unterschiedlich schwerwiegende Folgen haben. Dennoch bedürfe es der Aufmerksamkeit für alle denkbaren Fehlerquellen, sagt Marius Möller. Das Bewusstsein für derlei Alltagssituationen und ein routinierter Umgang damit seien hilfreich, um unter Druck und Belastung richtig zu handeln. «Deshalb habe ich die Übung so realistisch wie möglich konzipiert.»
Der Pflegeexperte legt Wert auf eine offene Fehlerkultur. Missgeschicke sollen im dafür vorgesehenen Meldesystem registriert werden. Vor allem aber ist Möller wichtig, dass Fehler zur Sprache kommen und gewissenhaft analysiert werden: «Wir müssen über Fehler sprechen», betont der Experte. Das sei eine Voraussetzung dafür, die Patientensicherheit zu verbessern und das Qualitätsmanagement zu optimieren. Indem die Abteilungen monatlich die Zwischenfälle untereinander kommunizierten, «können wir Probleme erkennen, Massnahmen treffen und Schwerpunkte in der Schulung setzen». Wie viele unerwünschte Ereignisse einträten, zu welcher Tageszeit sie sich häuften und weshalb, lasse sich nicht generell bestimmen, sagt Möller.
Vielfach ein Tabuthema
Meist sprechen Spitäler nur ungern über Fehler. Nach aussen dringen meist nur Fälle mit fatalem Ausgang, bei denen Patienten schwerwiegend geschädigt werden oder ihr Leben verlieren. Dennoch blenden auch die Patientinnen und Patienten lieber aus, dass in Kliniken wie auf Baustellen oder im Büro täglich das eine oder andere schiefläuft – zur eigenen Beruhigung.
Den transparenten Umgang mit Fehlern propagiert auch die Stiftung Patientensicherheit. Sie hat ein nationales Fehlermelde-Netzwerk installiert, damit häufig auftretende Probleme offenkundig werden. Die Stiftung organisierte in den letzten Tagen wieder eine ihrer jährlichen Aktionswochen, in der Spitäler gezielte Schulungen durchführten. Darüber hinaus gibt die kantonale Spitalliste eine Verpflichtung zur Weiterbildung vor.
Keine Halbgötter in Weiss
In den meisten Fällen gehen die Vorkommnisse glimpflich aus. Patientinnen und Patienten erfahren häufig gar nichts davon. Ob und wann sie über Behandlungsfehler informiert werden, ist nicht klar geregelt – und rechtlich oft umstritten. Für die Verantwortlichen der Klinik Hirslanden ist jedenfalls klar, dass es keine Halbgötter in Weiss gibt. Genauso wenig wie unfehlbare Pflegefachleute.