Tattoos - Die Lust am Stechen

Publiziert: 26.10.2006 um 11:57 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2018 um 21:00 Uhr

Schmerz, lass nach! So viele in die Haut gestochene Kunstwerke wie an der Tattoo-Convention in Pratteln
gibt es nicht so oft zu bewundern. Tätowierte und Tätowierer bemühen sich zwar, ihrer Leidenschaft das
«Verruchte» zu nehmen. Aber «Normalbürger» ohne Körperschmuck sind am Treffen der Stecherszene kaum
auszumachen. Dafür umsomehr Individualisten, die ein bisschen anders sein wollen als die anderen


Text: Beat Wüthrich

Eine junge Mutter mit buntem Marienbild am linken Oberarm schöppelt das Baby auf ihrem Schoss. Sie hat sich den Platz auf einem der hölzernen Waldfestbänke erobert. Ich unterhalte mich mit Besuchern hier im Vorzelt, wo die Dezibelzahl geringer ist wie weiter hinten im Eventsaal. Dort geht die Musik richtig ab. Es herrschen gefühlte Flugzeugabflug-Werte. Irre laut. Hardrock und Heavy Metal nonstop.

Auf der Tattoo-Convention im Industrie- und Gewerbegebiet von Pratteln ist was los. Vor dem eingezäunten Gelände stehen Autos und schwere Töffs mit Kontrollschildern aus der ganzen Schweiz und Süddeutschland. Fünfzehn Franken kostet der Eintritt fürs Zugucken, wie tätowiert wird. Kleinkinder rennen hin und her. Fast wie an einer Chilbi. Aber eben doch anders. Der Toilettenwagen ist mit Girls und Boys angeschrieben. Und hinter der Theke im rauchfreien Eventraum steht ein Kässeli, das auf einen freiwilligen Obolus für die WC-Benutzung wartet. Hier in dieser Halle stehen sie dicht an dicht, die Stände der Tätowierer. Alle wollen sie demonstrieren, dass das Nadelstechen eine Kunst ist. Und alle wollen sie dem «Normalbürger» (so steht es im Pressetext) beweisen, dass ihr Metier nichts Verruchtes an sich habe. Nur: Wo sind die Normalbürger? Ich sehe lauter Tätowierte. Und alle sind stolz auf ihren Körper, den sie dem Sie+Er-Fotografen gerne präsentieren und ungeniert ablichten lassen.

Nadine Hächler und Heiko Marc Senft, 26, aus Basel zum Beispiel. Die Zwanzigjährige, hochschwanger, hat am rechten Fussknöchel ein blau-graues Band mit dem Baslerstab und zwei Basilisken, an der Wirbelsäule steht von oben nach unten «Böhse Onkelz». Die waren bis vor ihrem Rücktritt 2005 eine umstrittene deutsche Punk- und Hardrock-Gruppe. Ja, so ist das eben. Die Band existiert nicht mehr, das Tattoo bleibt. Heiko Marc, seit zwei Jahren mit Nadine zusammen, trägt ebenfalls die Onkelz mit sich herum. Selbst gemacht, an beiden Unterschenkeln. Ansonsten ist er auffallend mit den verschiedensten Motiven geschmückt, bis zum Hals rauf. Der junge Mann konnte mit Hilfe seiner Mutter ein Tattoo-Studio eröffnen. Doch bis genug Kundschaft erscheint, ist er immer noch als gelernter Maurer tätig. Heiko Marc kam durch seinen Vater auf den Geschmack: «Im Knast hat er seine Bildchen selbst tätowiert: eine nackte Frau, ein Kreuz im Sonnenschein und einen Henker.» Wie es denn sei, mit einem stark tätowierten Mann zusammen zu sein, will ich von Nadine wissen. Sie sagt: «Geil!» Ihr gemeinsames Kind dürfe aber erst mit 18 tätowiert werden, betont sie strikt. Heiko wiegelt ab: «Sagen wir mal mit 15.»

Christoph Ruth, 38, ist ein gut gebauter Kerl. Der gelernte Metallbauschlosser aus Mellingen AG liess sich 1985 am rechten Oberarm ein Spinnennetz stechen. Heute ist er beinahe am ganzen Körper tätowiert. «Es ist Körperschmuck. Ich will damit auffallen, anders aussehen als andere, nicht sein wie ein normaler Mensch», sagt er. «Ausser im Gesicht bin ich überall bunt.» Wirklich überall? «Gut, es gibt noch Stellen, die frei sind.» Er guckt auf seinen Hosenschlitz. Ich frage direkt: «Du meinst deinen Schwanz?» Genau an den denkt er und sagt: «Why not? Was nicht ist, kann noch werden.»

Früher haute er Steine, jetzt sticht er Haut Valentin Steinmann, 38, den Freunde Walo nennen, mag seinen Spitznamen eigentlich nicht. Doch: «Ich habe mich daran gewöhnt.» Er betreibt in Luzern das Tätowierungsstudio Corazon, an bester Geschäftslage, Hertensteinstrasse Nr. 2. Es liegt im ersten Stock, direkt über einer Käsehandlung, die unter dem Vordach gerne Käseküchlein im automatischen Heisskarussell drehen lässt. Je nach Empfinden kann so was duften oder stinken. Deshalb brennen im Tattoo-Studio ständig Duftkerzen und es riecht angenehm, jedenfalls nicht nach Chäs. Steinmann gibt sich selbstsicher und sieht auch so aus. Schliesslich hat man mir von verschiedenen Seiten berichtet, er sei einer der besten Stecher, Tätowierer also, die es in Europa gebe. Doch sowohl im Gespräch als auch beim Fotografieren wirkt er eher schüchtern. Bei den Fotos gerät er gar ins Schwitzen. «Genug jetzt», sagt er und reibt sich die Stirn mit einem Papiertaschentuch trocken.

Der Luzerner tätowierte sich selbst erstmals als Zwölfjähriger. Das geschah mit Nadeln und Tinte oder so; ein Sternchen am linken Handgelenk wars. Perfekt sah das nicht aus. Was die Eltern dazu sagten, weiss Steinmann noch heute: «Mach, was du willst. Die Hauptsache ist, dass du nichts mit der Schmier zu tun bekommst. Keine Töffli klauen, überhaupt nichts stehlen.»

Daran hielt sich der Junge. Und er lernte Steinmetz, obwohl er lieber Tätowierer geworden wäre. Aber eine solche (anerkannte) Lehre gibts in der Schweiz bis heute nicht. Als Steinmetz bearbeitete er Grabsteine, Fenster, Säulen, Treppen. Während der Lehre übte er sich immer wieder im Tätowieren, reiste mit dem wenigen Ersparten, um dazuzulernen. Mit 22 eröffnete Steinmetz Steinmann ein Tattoo-Studio. «Man muss schon künstlerisch begabt sein, ganz oft zeichnen, entwerfen, wiederum zeichnen», weiss der Mann, der ledig geblieben ist und es wahrscheinlich auch bleiben wird. Einfach so. Seefahrer hätten die Tätowierungen aus aller Welt mitgebracht, sagt er. Glücksbringer in Form von schönen Frauen, Seemannsbräuten halt. Damit war die Geliebte, oder eine von mehreren, wie immer sie auch aussehen mochte, immer dabei.

Valentin Steinmanns Kundinnen und Kunden – das Verhältnis beträgt etwa fünfzig zu fünfzig – sitzen bequem auf einem alten roten Coiffeurstuhl aus Italien. Fürs Stechen an Rücken oder Hintern steht eine Liege bereit, die an eine Arztpraxis erinnert. Steinmann ist laut eigener Aussage zu fünfzig Prozent tätowiert. «Ich tätowiere nichts, was ich nicht verantworten kann», sagt er. Damit meint er Gesichter, aber auch deutsche braune Vergangenheit. «Ich mag auch nichts, was sexistisch ist, und kein Sadomaso-Zeugs.» Noch etwas ist ihm wichtig: «Wenn jemand vorbeikommt, der noch keine achtzehn ist, weigere ich mich. Da müssen schon die Eltern mitkommen und ihr Okay geben. Schriftliche Zusagen könnten ja gefälscht sein.» Angetrunkene und Bekiffte schickt er gleich wieder weg. Am liebsten sind Valentin (man duzt sich in der Szene) 25-Jährige und ältere, «weil die wissen, dass sie echte Fans sind». Ihnen verleide ihr schwarz-grau-blaues oder sehr farbiges Kunstwerk nicht. Sie wollen es.

Schon Ötzi war tätowiert

Valentin arbeitet mit bis zu 47 Nadeln aufs Mal, alles absolut hygienisch. Ich sage, es erinnere alles an einen Zahnarztbohrer. Er gibt mir Recht. Motive alter Schule sind in. Rose, Herzen, Anker und, na ja, Dolche. Doch «Walo» Valentin, der Haut als «lebendige Leinwand» sieht, geht auch mal zum chinesischen Koch in der Nähe, um sich «Glück» oder «Liebe» authentisch malen zu lassen und es nachher mit den Nadeln umzusetzen.

Steinmann verlangt mindestens 200 Franken pro Sitzung, egal ob er nun einen Mini-Stern sticht oder irgendwas ausbessert. Ob ich wisse, dass der Gletschermann Ötzi auch tätowiert sei. Nein. Oder dass je älter die Haut, das Stechen umso schmerzhafter sei. Nein. Apropos Schmerzen: «Achselhöhlen, Kniekehlen, die Innenseiten von Händen, Fusssohlen und komischerweise die Arschbacken sind sehr empfindliche Stellen. Doch es gibt viele, die das ohne weiteres aushalten.»

Ein paar Ratschläge erteilt der Stecher von Luzern für Leute, die sich tätowieren lassen wollen: Ausgeschlafen sollte man sein, gebadet und etwas gegessen haben. Somit sei die nötige Energie da. Für einen Tätowierer sei es wichtig, «mit Herz und Kopf zu arbeiten und an das Glück des Kunden» zu denken, denn nur so entstehe etwas «Erfreuliches». Valentin Steinmann gerät ins Schwärmen: «Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit 80 im Rollstuhl zu sitzen, die Tattoos zu betrachten und so meine ganze Lebensgeschichte anzuschauen.»

Hochbetrieb bei den Tätowierkünstlern in Pratteln. Da sitzen oder liegen Frauen und Männer, lassen sich stechen. Und jede Menge Leute schauen zu. René Meier, 34, ist seit achteinhalb Jahren Tätowierer in Thun BE. Nach der Kunstgewerbeschule wollte er Goldschmied lernen, brach die Lehre aber ab, weil ihm auf ein Mal der Beruf des Zahntechnikers besser gefiel. Wieso, weiss er eigentlich nicht mehr. Item. Auf jeden Fall ist Meier von Kindsbeinen an von der Malerei fasziniert. Er wurde Tätowierer, mag am liebsten sogenannte biomechanische Tattoos à la H. R. Giger (der als deren Erfinder gilt) oder Porträts, meist in dunklen Tönen.

Meier sitzt hinter seinem Stand und sticht einem jungen Mann an der Schulter einen Stern. Immer wieder tupft der, schmalschultrige Künstler – mit sterilen Handschuhen ausgestattet, wie es sich gehört – Blutstropfen von der Stichstelle. «Ist das Kleenex oder so?» frage ich ihn. Er erkundigt sich beim Nachbarn. «Nein, Bountys.» Danke. «Meine Arbeit macht mir unheimlich Spass. Und man kann davon leben, wenn man gut arbeitet», erklärt der Thuner. Meier empfiehlt , «sich nicht unter 25 Jahren tätowieren zu lassen. Jedenfalls nicht an gut sichtbaren Körperteilen. Das könnte Schwierigkeiten im Beruf bringen. Stell dir vor, du hast ein Tattoo auf der Hand, und als 40-Jähriger möchtest du deinen Job wechseln. Nein, das funktioniert in den wenigsten Fällen. Lass dich lieber im reiferen Alter tätowieren.» Noch etwas will René Meier loswerden: «Beim Zahnarzt heult der Bohrer. Das ist der Fachausdruck. Die Tätowiermaschine dagegen surrt,
50 Mal pro Sekunde.» Ob heulen oder surren. Weh tuts immer ein bisschen.

Ernst Rüegg fällt auf, nicht nur, weil er mich ständig verfolgt, um endlich befragt zu werden, sondern vor allem deshalb, weil sein Gesicht tätowiert ist. Der 47-jährige Bauarbeiter aus Mittelhäusern BE ist ledig. Sein Chef habe nichts gegen die lebenslange Farbe im Gesicht. Und Kinder fänden das interessant. Angefangen habe er, Rüegg, mit einem Güfeli und Pelikan-Tinte. Am linken Handgelenk kann ich den Erstling, so was Lilienähnliches, noch erkennen. Der Berner gibt sein ganzes Erspartes für Tattoos aus. Wie viele Zehntausende von Franken bereits in seine Haut investiert hat, weiss der Mann nicht. Oder will es nicht wissen.

«Hose» aus Samoa, Nase von den Maori, Wangen von den Indianern

In der Tattoo-Beiz, wo knapp leere Bierdosen zu Aschenbechern umfunktioniert werden, zeigt mir Ernst Rüegg alles, worauf er stolz ist. Ich frage ihn nach seinen Tätowierungen. Die «Hose», ein perfekt gestochenes, würfelförmiges Muster, stamme aus Samoa, die Wangen seien ein Indianermotiv, die Vorlagen für Nase und die halbe Stirn kämen aus Neuseeland. Was, um Gottes willen, bewegt ihn zu solchem Tun? Ich frage ihn drei Mal, und drei Mal gibt er mir dieselbe Antwort, die ich bis jetzt noch nicht kapiere: «Ich will die Message von den Urmenschen to Europe bringen.» Ein viertes Mal mag ich nicht mehr fragen.

Rüegg jedenfalls wird intensiv beäugt. Auch von der Familie, die mit uns am gleichen Tisch sitzt. Schade, dass der Vater fehlt. Denn er sei der Meisttätowierte, sogar auf dem Kopf, weiss Mutter Claudia Schädler, 52, Hausfrau und Büroangestellte aus Schaan (FL). Sie selbst habe ihre ersten Tattoos «so mit 23, 24» machen lassen. Sie steht auf Farbiges, Fröhliches. «Jeder, der mal angesteckt ist, macht immer weiter. Das Tätowieren ist eine Lebenseinstellung. Im Schwimmbad habe ich nie Probleme. Wenn mich Leute anstarren, ist das ihr eigenes Problem.

So sehen es auch Tochter Sinin, 23, Kauffrau in der Baubranche, sowie Quasi-Schwiegersohn Thomas Scussel, 32, aus Domat Ems GR. Der gelernte Velo- und Töffmechaniker hat einen kahlrasierten Kopf; nur eine üppige Tolle beweist, dass er im Grunde vollbehaart wäre. Sinin und Thomas sind sich vor einem Jahr am Stadtfest in Chur erstmals begegnet. «Der Mann ist mir mit seinen Tätowierungen sofort aufgefallen. Wow, wie toll!» Seit damals sind die beiden zusammen. Tattoos scheinen zu verbinden. «Es ist etwas Wunderbares, das man selbst gestalten kann und das immer bleibt. So wie die Liebe.» Sie boxt ihren Geliebten zärtlich.

In der Halle wird die Musik noch lauter, die Menschen drängeln sich um die improvisierten Tattoo-Studios, blättern in einschlägigen Magazinen. Würste werden vertilgt, Bier getrunken. Der Abend ist noch lang. Und die Zeit, sich eine zusätzliche Tätowierung in Geist und Geld vorzustellen, auch.

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