St. Pantaleon liegt tatsächlich in der Schweiz

Was ist die Schweiz? Was macht sie aus? Was bewegt die Menschen, die in diesem Land leben und arbeiten? BLICK schickt Autor Hanspeter Bundi auf Spurensuche. Zu Fuss von Basel nach Chiasso unterwegs, beschreibt er seine Begegnungen und Erlebnisse. Heute: St. Pantaleon
Publiziert: 20.05.2008 um 15:24 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2018 um 20:42 Uhr
Von Hanspeter Bundi

St.Pantaleon. Der Name tönt nach Ferien. Er riecht nach Rosmarin und Lavendel, nach Sommerhitze zwischen beige gekalkten Häusern, die sich um eine romanische Kirche scharen. Auf dem Dorfplatz spielen alte Männer Pétanque und trinken Pastis. Soweit die Fantasie. St. Pantaleon liegt in der Schweiz, im solothurnischen Schwarzbubenland. Als ich den Namen auf der Wanderkarte entdecke, nur wenige Zentimeter unterhalb Basels, weiss ich, welches mein Tagesziel wird.

Andere Dörfer der Gegend heissen Gempen, Nunningen, Büren und Ziefen.

Der Fussweg hinaus aus der Stadt führt der Birs entlang durch einen schmalen Streifen Auenwald. Der Fluss rauscht.

Die Sonne wirft Lichtkringel auf den grün überwachsenen Boden. Der Bärlauch riecht. Man sieht die Welt nicht, aber man ist auch nicht ab von ihr, hier, in diesem übernutzten Stück Vorstadt-Grün, wo das ganze Jahr über Hunde versäubert und Muskeln gestählt werden. Die Spaziergänger und Jogger sehen starr vor sich hin, da ist kein Zugang zu ihrem Blick. In St. Pantaleon, stelle ich mir vor, wird es anders sein.

Eine Brücke über der Autobahn. Noch ein Vorstadtwald, diesmal von Bikern zerfahren. Der Boden, vom vorgestrigen Regen durchnässt, federt unter den Füssen. Der Verkehr lärmt wie hinter einem dünnen Vorhang. Dann, auf einem langen Wiesenstück mit Namen Rütihard öffnet sich der Himmel.

Nach Mittag. Rapsfelder. Bienen. Die Kirschbäume sind mit weisser Farbe durchnummeriert. Einige sind verwachsen und verzworgelt wie alte Olivenbäume. Ein Turmfalke steht minutenlang flatternd in der Luft, immer am gleichen Fleck. Er stösst hinab, steigt wieder auf. Nach dem zweiten Hinabstossen fliegt er davon, dem Nest zu. Weit draussen ist eine Schulklasse unterwegs. Die winzigen Oberkörper der Schüler ziehen wie im Gänsemarsch hinter einem Rapsfeld vorbei, lautlos bis auf das Lachen eines Mädchens, das immer wieder aufklingt. Möglich, dass die andern sich ärgern, dass sie tadelnd «Helga» sagen. Möglich auch, dass sie sie kitzeln, um sie noch mehr zum Lachen zu bringen. Vielleicht ist es eine friedliche Klasse, vielleicht eine zerstrittene. Es ist nicht zu sehen, nicht auf diese Distanz und nicht an diesem warmen Frühlingsnachmittag.

Frauen am Rand des Welkens führen ihre schön gestriegelten Hunde vorbei und steigen in grosse Autos. Es sind viele Frauen, mit vielen schön gestriegelten Hunden. Jenseits des Waldes ist die Stadt mit ihren Türmen und Strassen zu sehen, wo die Männer dieser Frauen ihre letzten Jahre vor der Pension abarbeiten. Der Lärm, den sie dabei machen, kommt hier als entferntes Rauschen an.

Je weiter ich mich von der Stadt entferne, desto weniger Frauen sind unterwegs. Da ist noch eine Grossmutter, die mit dem Kinderwagen ihr Enkelkind spazieren führt. Sie pflückt am Waldrand Blumen und wünscht mir «guten Weg». Dann bin ich allein und gehe zügig hügelan. Zum ersten Mal höre ich den Kies unter meinen Füssen, dazu meinen Atem. Wenn ich so weitergehe, bin ich in zwei Stunden in St. Pantaleon oder im benachbarten Nuglar. Auch das so ein Name, der nach einer andern, diesmal mehr östlichen, Welt tönt.

«Päntleon», sagt der 77-jährige Konrad Vögtli, Wirt, Jäger und Töfffahrer aus Leidenschaft. Er sagt den Namen mit einem lang gezogenen ‹o› auf der letzten Silbe. Von ihm ausgesprochen verliert St. Pantaleon das südfranzösische Flair und wird zu einem durch und durch schweizerischen Dorf. Was bleibt, ist die Neugier über die Herkunft des Namens.

Vögtli steht in seiner Werkstatt hinter dem Ausflugrestaurant Schönmatt bei Gempen und streichelt seine Motorräder.

Es ist eine alte Condor A580, mit der Vögtli Armeedienst leistete, eine strahlend gelbe Polizeimaschine aus den 40ern, und eine Indian Scout von 1928. Auf so einer Scout, vorn auf dem Tank, fuhr der kleine Koni mit dem Vater über Land und sah fasziniert, wie die Spiegelbilder der Bäume und Häuser über das verchromte Gehäuse des Scheinwerfers huschten. Links und rechts waren die Hände des Vaters. Koni fühlte sich sicher.

Als der Vater ein Auto kaufte, gab er den Töff in Zahlung. Das war 1952. Die Schweiz stand am Anfang einer langen Phase des wirtschaftlichen Wachstums. Neue Möbel ersetzten die alten, dunklen Schränke und die zerfurchten Tische. Kühlschränke, später auch Waschmaschinen machten das Leben der Hausfrauen einfacher. Kostengünstige, aber unbequeme Motorräder wurden durch Autos ersetzt.

Viele Jahre später, als der Töff schon längst zum Symbol für Freiheit und Ungebundenheit geworden war, entdeckte Konrad Vögtli bei einer Oldtimermesse die alte Scout. Es war genau das Modell, das auch der Vater gefahren hatte, sogar die Farbe stimmte, weinrot. Vögtli kaufte den Töff ohne zu überlegen und für ein Vielfaches dessen, was der Vater dafür gelöst hatte. Es war, sagt er, einer der glücklichsten Tage in seinem Leben. Das Glück scheint immer noch auf, wenn er bei seinen Motorrädern steht.

Vor wenigen Jahren erzählte ihm ein Freund, er habe soeben die alte Triumph des Vaters verkauft. «Gehts dir noch» herrschte Vögtli ihn an. «Das tut man nicht.» Der andere rechtfertigte sich, man könne nicht alles Gerümpel aufbewahren, aber Vögtli liess sich von seiner Meinung nicht abbringen. Das ehemalige Motorrad des Vaters, schimpft er, sei nicht einfach Gerümpel.

«Sie sind ein sentimentaler Mensch», sage ich. «Ja, manchmal», sagt er. In der dunklen Gaststube der «Schönmatt», die jetzt von der Tochter geführt wird, hängen die Gehörne der Rehe, die Vögtli gejagt hat. Ein Hirschkopf, ein ungerader Zehner, steht zum Verkauf. Er ist für 350 Franken zu haben. Der Apfelkuchen, den ich zum Kaffee bestelle, ist wie von Muttern gemacht.

Eineinhalb Stunden später sehe ich auf St. Pantaleon hinunter. Das Dorf liegt unglaublich idyllisch zwischen sanft geschliffenen, bewaldeten Hügelzügen und umgeben von Hunderten von Kirschbäumen. Die Häuser und die Kirche leuchten in strahlendem Weiss. Was da vor mir liegt, ist ein Stück Bilderbuchschweiz. Ich sehe mich satt und gehe dann hinunter, um mir erklären zu lassen, was für ein Heiliger dieser Pantaleon gewesen sei.

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