Leros, eine kleine Insel im äussersten Osten der Ägäis, 8000 Einwohner leben hier. In den Wintermonaten ist normalerweise wenig los, Touristen kommen kaum. Und doch herrscht auf Leros Ausnahmezustand.
1500 Flüchtlinge sind allein in den letzten beiden Tagen an Land gegangen. Die Aufnahmelager sind überfüllt. Leros gehört mit Kos und Lesbos zu den wichtigsten Anlaufstellen für alle, die von der Türkei übers Mittelmeer nach Europa kommen. 88057 Menschen wagten seit 1. Januar die Überfahrt, wie Zahlen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR zeigen. 37 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder.
Auf Leros bringen Freiwillige und Polizisten sie ins Pikpa, das Camp der Kinder des Leros Solidarity Network. Es ist spezialisiert auf Familien, alleinreisende Minderjährige, aber auch Senioren.
Schon von draussen hört man Stimmengewirr, Schreie, Weinen und Lachen. Im Hof spielen Kinder. Sie sind aus zerbombten Dörfern und Städten geflohen, kamen in Schlauchbooten übers Meer. Ihre Flucht ist noch nicht zu Ende – doch in Leros sind sie zum ersten Mal in Sicherheit.
Ziel Berlin – da, wo bereits der Mann ist
Da ist Susan (29), vor 25 Tagen geriet ihr Haus in Damaskus ins Kreuzfeuer, sie floh mit ihren sechs Kindern, Ari (12), Sima (9), Habes (8), Shiuda (5), Lilav (3) und Hevi (1). Das siebte Kind trug sie damals noch unter dem Herzen. Hochschwanger erreichte sie die Türkei, vor zehn Tagen brachte sie dort in einem Spital eine kleine Tochter zur Welt, Eva heisst sie.
Viel Zeit, sich nach der Geburt zu erholen, hatte Susan nicht. Zusammen mit 1500 anderen Flüchtlingen kam sie mit dem Neugeborenen und ihren anderen Kindern in ein türkisches Stadion. «Ich wusste, dort können wir nicht lange bleiben», sagt Susan.
Sie wagte die Überfahrt, in einem heillos überfüllten Boot ging es übers Meer. «Die Wellen waren so hoch, Wasser kam ins Boot.» Doch die Familie kam heil in Leros an. «Wir wollen weiter nach Berlin», sagt Susan. Dort ist ihr Mann, er floh bereits vor ein paar Monaten.
Susan und ihre Kinder warten darauf, dass die griechischen Behörden sie registrieren und ihnen die Papiere für die Weiterfahrt geben. Drei Tage dauert das im Schnitt. Dann bringt sie eine Fähre nach Athen, ans Festland. Von dort geht es weiter nach Deutschland. Auch wenn sie wissen, dass der Weg immer beschwerlicher wird, weil immer mehr Regierungen Zäune errichten und Obergrenzen für Flüchtlinge festsetzen (siehe Karte).
Matina Katsiveli (61) leitet das Leros Solidarity Network, das das Pikpa betreibt. Die ehemalige Politikerin hat schon in den Kriegen in Serbien und im Irak humanitäre Hilfe geleistet. «Ich weiss, was es für die Menschen bedeutet, wenn ein Land zerstört wird.» Sie sieht es als ihre Pflicht an, zu helfen. «Die Menschen, die hier ankommen, fliehen vor den Kriegen aus Syrien, dem Irak und aus Afghanistan. Wir müssen sie beschützen!»
Doch Katsiveli weiss nicht, wie lange sie den Flüchtlingen noch helfen kann. Die EU ist dabei, auf Leros einen sogenannten Hotspot einzurichten. In einem neuen Zentrum sollen schon bald die ersten Flüchtlinge aufgenommen und re-gistriert werden. Die Ausrüstung ist bereits da, darunter Dutzende Computer, um Fingerabdrücke der Flüchtlinge zu scannen. Katsiveli fürchtet, dass die Regierung ihr Camp schliesst, wenn das neue Zentrum eröffnet ist – weil dann alle Flüchtlinge dorthin müssen, auch die Kinder. Doch noch ist dieser Tag nicht gekommen. Und so tut Katsiveli weiter, so viel sie kann.
Mit Seifenblasen gegen Yeyas Tränen
Zusammen mit anderen Helfern versuchen sie gerade, den kleinen Yeya, einen Monat alt, mit Seifenblasen zu trösten. Auch dieser Bub kam auf der Flucht zur Welt, vor zwei Monaten verliessen seine Eltern die umkämpften Reste der syrische Stadt Aleppo. Seit vier Tagen sind sie in Leros, auch sie wollen weiter nach Deutschland, wie fast alle hier.
Nur einer weiss noch nicht genau, wo er hinwill: Der Vater des kleinen Halid (1). Während sein Sohn auf einer Parkbank schläft, eingehüllt in seine Jacke, macht er sich Gedanken über die Zukunft.
Nein, er weiss noch nicht, wo die Reise hingeht: «Hauptsache, weg vom Krieg.»