Wenn er aufsteht, schlafen die Kühe noch im Stall. Und Busse fahren keine. Ezatullah Rezai saust jeden Morgen mit dem Velo den Hügel hinunter zur Käserei Eyweid in Zäziwil BE. Bindet eine Schürze um, zieht eine weisse Mütze über seine schwarzen Haare und fängt an. Zuerst erwärmt er die Milch, dann gibt er Kulturen und Lab hinzu. Später, und das liebt er, schneidet er die gallertartige Masse mit der Käseharfe in immer kleinere Brocken.
Ezatullah Rezai (26) ist Milchpraktiker. Aufgewachsen ist er in Afghanistan. Dort gibt es keinen Käse, wie wir ihn kennen. Und trotzdem stillt er den Schweizer Hunger nach Emmentaler. Fragt man weshalb, zuckt er nur mit den Schultern. «Käse ist lecker.» Momentan schwärmt er für Bianca, ein Weichkäse.
Jetzt hat er Feierabend, sitzt im Rosengarten und schaut auf Bern hinunter. Die Sonne scheint auf die Dächer, die Aare glitzert, Rezai lächelt. «Die Schweiz ist ein wunderschönes Land.»
Ezatullah Rezai flüchtete vor viereinhalb Jahren hierher. Vor den Taliban, vor dem Krieg. Er kam während der Flüchtlingskrise. Allein 2015 stellten rund 40 000 Menschen in der Schweiz ein Asylgesuch. Nach dem Feuerinferno im griechischen Flüchtlingscamp Moria diese Woche ist das Thema wieder aktuell: Der Bund will nun 20 unbegleitete Kinder und Jugendliche aufnehmen.
Sie werden wie Rezai bei null anfangen. Er hat es geschafft, viele andere nicht. Je nach Flüchtlingsstatus haben 50 oder 70 Prozent keine Arbeit. Und über 80 Prozent leben von der Sozialhilfe. Sie sind noch nicht angekommen. Warum – darüber haben wir mit Politikern, Behörden, Integrationsfachleuten und Flüchtlingen gesprochen.
Asylsuchende, Ausweis N: Bei ihnen liegt noch kein Entscheid vor, ob sie bleiben dürfen. Während der Zeit im Asylzentrum dürfen sie nicht arbeiten. Danach ist es nur möglich, wenn der Arbeitgeber eine Bewilligung einholt – und die Wirtschaftslage es zulässt.
Anerkannte Flüchtlinge, Ausweis B: Sie dürfen sofort arbeiten. Die Arbeitgeber müssen dem Kanton nur eine Meldung machen.
Vorläufig Aufgenommene, Ausweis F: Wenn eine Rückkehr nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich ist. Sie können wie jene mit B-Ausweis arbeiten.
Asylsuchende, Ausweis N: Bei ihnen liegt noch kein Entscheid vor, ob sie bleiben dürfen. Während der Zeit im Asylzentrum dürfen sie nicht arbeiten. Danach ist es nur möglich, wenn der Arbeitgeber eine Bewilligung einholt – und die Wirtschaftslage es zulässt.
Anerkannte Flüchtlinge, Ausweis B: Sie dürfen sofort arbeiten. Die Arbeitgeber müssen dem Kanton nur eine Meldung machen.
Vorläufig Aufgenommene, Ausweis F: Wenn eine Rückkehr nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich ist. Sie können wie jene mit B-Ausweis arbeiten.
Auf die Kantone und Gemeinden kommen jetzt enorme Kosten zu. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) rechnet mit mehreren Hundert Millionen Franken, weil so viele Flüchtlinge von der Sozialhilfe leben. Bisher zahlte der Bund. Diese Unterstützung läuft aber bei anerkannten Flüchtlingen nach fünf Jahren aus, bei vorläufig Aufgenommenen nach sieben Jahren. Und Corona verschärft die Situation – 75 000 Sozialhilfefälle sollen bis 2022 hinzukommen, schätzt die Skos. Der Schweizerische Gemeindeverband arbeitet nun auf Hochtouren daran, dass der Bund die Sozialhilfe-Finanzierung für Flüchtlinge in dieser Zeit um zwei Jahre verlängert – von fünf auf sieben, von sieben auf neun Jahre.
Die Gemeinden trifft es hart
Für manche sind das Horrorszenarien, für Martina Bircher (36) Realität. Die SVP-Nationalrätin ist Gemeinderätin in Aarburg AG. Und als solche für Soziales und Asyl verantwortlich. Gerade hat die Session in Bern angefangen, jetzt zieht sie ihren weissen Rollkoffer über den Asphalt in Aarburg Nord. «Unser Problemquartier», sagt sie, auf der Nase eine rosa glänzende Ray-Ban-Brille. Hinter ihr ein Block mit kleinen Fenstern und dreckigem Verputz. Hier leben vor allem Eritreer, 200 sind es. Die allermeisten sozialhilfeabhängig, sagt Bircher. «Die Kosten hätten uns längst das Genick gebrochen, wenn wir keinen innerkantonalen Finanzausgleich hätten.» Aarburg bezieht 4,8 Millionen Franken aus dem Topf – am meisten von allen Gemeinden im Kanton.
Wie Aarburg geht es auch anderen. Sie heissen Rekingen AG, Gontenschwil AG oder Kirchberg SG. Nicht alle mögen detailliert auf die Fragen des SonntagsBlick Magazins antworten. Aus Angst vor schlechter Presse – wie ein versehentlich an uns gesendetes Mail aus Rekingen zeigt. Die kleine Gemeinde machte vor vier Jahren Schlagzeilen. Sieben Flüchtlinge wollten sich niederlassen. Im Amtsblatt flehte der Gemeinderat seine Einwohner an, ihnen doch bitte keine Wohnungen zu vermieten. Diese Personen lebten von der materiellen Hilfe. «Sobald die Gemeinde kostenpflichtig ist, bedeutet dies den finanziellen Ruin für Rekingen.»
So fühlen viele Gemeindeammänner. Die Kommunen mit vielen Flüchtlingen klagen, dass ihre Einwohner neben der Integrationsleistung auch noch die Sozialhilfekosten tragen müssen, während andere mit wenigen davonkommen. Sie fühlen sich machtlos.
In Aarburg wohnen über 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. Das hat mit der Geschichte des Orts tun. Früher lebte das Dorf von der Textilindustrie. Fabrikbesitzer schufen für ihre Arbeiter günstige Wohnblöcke. Aus dieser Zeit übrig geblieben sind tiefe Mieten in Aarburg Nord. Das, was sich Flüchtlinge leisten können.
Über einem Geländer hängt ein orientalischer Teppich, eritreische Kinder spielen vor dem Hauseingang Fangis. Und Martina Bircher sagt: «Flüchtlinge, die Sozialhilfe beziehen, sollen den Wohnort innerhalb des Kantons nicht frei wählen können.» Damit könnten Parallelgesellschaften verhindert werden. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, das ist völkerrechtlich problematisch. Bircher weiss das. Sie schaut zu den Kindern rüber und lächelt. Bircher ist Mutter eines zweijährigen Buben. Sie ist aber auch Betriebswirtin, die Zahlen müssen stimmen.
Hinter den Zahlen stehen aber Menschen. Was tun die Gemeinden, um diesen auf die Beine zu helfen?
Bircher zählt auf: Sprachkurse, Jobcoaching, Praktika im Werkhof. «Bei vielen fehlt der Wille zur Integration, sie haben so oder so ein Bleiberecht.»
Martina Bircher und Ezatullah Rezai haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind fleissig, ehrgeizig. Bircher schaffte es so von der Realschule an die Fachhochschule – und innert sechs Jahren ins Bundeshaus. Rezai kann heute seine Miete selber zahlen.
Wenn der Wille zur Integration nicht reicht
Ezatullah Rezai wollte. Er nervte sogar die Sozialarbeiter im Asylzentrum – so sehr wollte er. Deutsch lernen! Arbeiten! Alles, nur nicht rumhängen – und grübeln. Oft lag er nachts wach und dachte an seine Flucht. An seine Wegbegleiter, die auf einem schmalen Pfad in den Bergen in die Tiefe gestürzt waren. Oder an jene, die im Meer neben ihm ertrunken waren. Auf der Aare sehe er manchmal solche Boote. Eigentlich für 12 Passagiere gemacht, damals auf dem Mittelmeer aber mit 72 Flüchtlingen gefüllt.
Im Asylzentrum plagte ihn die Frage: «Warum konnte ich ihnen nicht helfen?» Irgendwann habe er sich entschieden, nach vorne zu schauen. In diesem Land, das er ganz gezielt ausgewählt habe, weil es keine Soldaten in den Krieg schicke. Weil er hier sicher sei.
Doch die Behörden bremsten ihn aus. Sie erlaubten ihm keine Arbeit, bezahlten ihm keinen Deutschkurs. Er war noch im Asylverfahren, mit N-Ausweis. Nach langen anderthalb Jahren wurde er vorläufig Aufgenommener, er durfte arbeiten. Doch der Migrationsdienst lehnte erst einmal alle seine Gesuche ab. Obwohl er selber Stellen gefunden hatte. Es hiess: Inländervorrang. Erst mit der Lehre in der Käserei klappte es. Weil der Branche seit Jahren der Nachwuchs fehlt.
Arbeit ist der Schlüssel zur Gesellschaft. Das weiss jeder Arbeitslose. An einer Party in der Schweiz fragt keiner: «Was lisisch grad?» Sondern: «Was schaffsch?» Das begriff Rezai schnell. Und er fühlte sich minderwertig. «Als Arbeitsloser fühlte ich mich nicht als Teil der Gesellschaft.»
Integrationsagenda gibt vor, wo’s hingehen muss
Bei der Arbeitsintegration harzte es lange. Weil die Asylverfahren ewig lang dauerten. Weil Firmen eine Bewilligung einholen mussten, wenn sie einen Flüchtling einstellen wollten. Und weil dieser dann auch noch einen beträchtlichen Teil seines Lohns dem Staat abgegeben musste.
All das hat sich geändert. Auch mit der Integrationsagenda, die den Kantonen und Gemeinden seit 2018 klare Vorgaben macht: Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene müssen nach drei Jahren eine Landessprache sprechen. Die Hälfte der Erwachsenen muss nach sieben Jahren im Arbeitsmarkt integriert sein. Und zwei Drittel der Jungen müssen in dieser Zeit in einer Ausbildung sein. Dafür verdreifachte der Bund die Integrationspauschale auf 16 000 Franken pro Flüchtling.
Mit dem Geld schaffen nun Kantone und Gemeinden fleissig Integrationsangebote. Unterschiedlich erfolgreich.
Es gibt einen Röstigraben. In manchen Westschweizer Kantonen geht nur jeder fünfte Flüchtling einer Arbeit nach. In der Inner- und Ostschweiz teilweise jeder zweite.
Thomas Kessler weiss weshalb. Der frühere Integrationsbeauftragte von Basel-Stadt sagt: «In den kleinräumigen Landregionen kennen sich die Arbeitgeber, Lehrmeister und freiwilligen Sprachlehrer persönlich. So können Flüchtlinge besser vermittelt werden.» Eine Rolle spielt auch, wer zahlt: In den meisten Kantonen gibt es einen innerkantonalen Soziallastenausgleich, die Kosten verteilen sich. In der Innerschweiz kaum, dort bleiben sie an den Kommunen hängen, wenn sie sich nicht anstrengen. Also strengen sie sich an.
Noch immer Fehlanreize im System
«Es bestehen noch Fehlanreize», sagt Kessler. Zum Beispiel dass der Bund bis zu sieben Jahre lang die Sozialhilfekosten übernimmt. Und dann auch nur für jene Flüchtlinge, die arbeitslos sind. Manche Gemeinden sträuben sich deswegen, Teilzeitstellen, ja selbst Lehrstellen, mit Flüchtlingen zu besetzen.
Das ist beim Bund bekannt. Das Staatssekretariat für Migration hält auf Anfrage fest, dass derzeit eine Arbeitsgruppe «Anpassungen des Finanzierungssystems» prüfe, die «entsprechende Fehlanreize und Hemmnisse beheben». Man diskutiert, die Bundeszahlungen von heute fünf bis sieben Jahre generell auf fünf Jahre zu vereinheitlichen – ohne aber dass die Kantone und Gemeinden insgesamt weniger Sozialhilfegeld bekommen.
Das erhöht den Druck auf die Gemeinden, schneller zu integrieren. Wenn man mit Martina Bircher spricht, löst es das Problem aber nicht. Ein Teil der Asyl-Sozialhilfebezüger in Aarburg seien Working Poor, sagt Bircher. Sie können trotz Job ihre Familie nicht ernähren. Ob mit oder ohne Job – den meisten in Aarburg fehlt es an Bildung. Bei manchen fange man mit Alphabetisierungskursen an, sagt sie. «Für solche Leute gibt es keine Jobs.»
Integrationsexperten sind sich einig: Es braucht noch mehr Investitionen in die Bildung von erwachsenen Flüchtlingen. Vom Bund subventionierte Arbeitsplätze und Lehrstellen inklusive. Eine Bildungsoffensive.
Ezatullah Rezai hat in Afghanistan Wirtschaft studiert. Ihm fehlte es an anderem: Deutsch, einem WG-Zimmer, einer Stelle. Von den Behörden kam wenig. Geholfen haben ihm Freiwillige. Drei Jahre lang lebte er bei einer Schweizer Familie. Sie brachten ihm die Sprache, die Liebe zum Käse und das Skifahren näher. Und mit Ruedi (86) lernt er die Schweiz kennen. Wenn Rezai frei hat, steigt er zu Ruedi ins Auto, dann fahren sie, so weit sie können. Manchmal mehrere hundert Kilometer an einem Tag. Gerade waren sie in Zermatt und schauten auf den höchsten Schweizer Berg: die Dufourspitze. «4634 Meter hoch.» Das sagt Ezatullah Rezai zweimal. Er mag Zahlen. Wie Martina Bircher.
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