Sie lebte jahrelang in einer Illusion: in der für Kinder selbstverständlichen Vorstellung, dass ihre Eltern ihre Eltern sind. Seit September 2014 weiss Kristina V. (25): Die eigene DNA ist anders als das Erbgut ihrer Schwester, ihrer Mutter: «Sie sind zwar meine Familie und werden dies auch immer bleiben. Aber genetisch haben wir nichts gemeinsam.»
Seit zwei Jahren ist die Psychologie-Studentin aus dem Thurgau auf der Suche nach ihren tatsächlichen Eltern. Dazu gehört, dass sie dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» letzte Woche ihre Geschichte schilderte. Und dass sie nun – exklusiv für die Schweiz – mit SonntagsBlick über ihr Schicksal spricht. Denn all dies dient ihrem grossen Ziel: «Ich will meine genetischen Eltern finden, denn ich möchte mehr über meine Herkunft wissen.»
Kristinas Geschichte beginnt im Sommer 1990 in einer Thurgauer Bodenseegemeinde. Ihre Eltern, Gastarbeiter aus dem damaligen Jugoslawien, sehnen sich nach einem Kind. Auf natürlichem Wege aber können sie offenbar keinen Nachwuchs bekommen. In ihrer Not wenden sie sich an den Fortpflanzungsmediziner Herbert Zech (heute 67) in Bregenz. Die so genannte In-vitro-Fertilisation, die künstliche Befruchtung im Reagenzglas (siehe Box), ist damals noch neu, Zech Europas führender Mediziner auf diesem Gebiet.
Und er kann Tomislav und Miluska V. bei ihrem Kinderwunsch helfen. Im Juli 1990 wird die 33-Jährige schwanger; im April 1991 kommt Kristina auf die Welt. Niemand ahnt, dass etwas nicht stimmen könnte.
Doch als ein Jahr später ihre Schwester Marina geboren wird, die gross und dunkelhaarig ist, fällt das Mädchen auf. Häufig wird das dunkelhaarige, stämmige Elternpaar von Bekannten auf die feingliedrige, blonde Kristina angesprochen. «Doch für sie war immer klar, dass ich ihre Tochter bin. Etwas anderes kam für sie nicht in Frage!» Dann werden durch Zufall erstmals schwere Zweifel wach.
«Ich sah zusammen mit meiner Mutter im kroatischen Fernsehen eine Soap», erzählt Kristina. «Darin erfährt ein junger Mann, dass sein Vater und seine Mutter nicht die leiblichen Eltern sein können: ihre Blutgruppen passen nicht zusammen. Ich sah meine Mutter an und sagte: Unsere Blutgruppen passen doch auch nicht zusammen!» Das war 2009. Die damals 18-Jährige Maturandin beginnt Fragen zu stellen, erkundigt sich auch bei Ärzten und schliesslich in Doktor Zechs Kinderwunschlinik: «Grund für die unterschiedlichen Blutgruppen könne eine Mutation sein, sagte man mir dort.» Dass eine Verwechslung statistisch viel wahrscheinlicher ist, sagt ihr niemand.
Erst der DNA-Test bringt Gewissheit
Als im selben Jahr Kristinas Vater stirbt, nach eineinhalb Jahren Kampf mit dem Krebs, blieben die Zweifel. Doch sie hat jetzt andere Sorgen. Sie wird zum neuen Familienoberhaupt, muss Geld verdienen, unter anderem bei McDonalds. «Vor einem DNA-Test, der Gewissheit bringen würde, hatte ich Angst.»
Erst 2014 gibt Kristina ihren Zweifeln nach und lässt einen Test machen. Das Resultat, zweifelsfrei: Ihre Mutter und ihre Schwester sind mit ihr nicht blutsverwandt. «Für mich war das eigentlich schon vorher klar. Aus dem jahrelangen ungewissen Gefühl wurde Klarheit. Es war wie eine Last, die von mir abfiel!», beschreibt die junge Frau ihre Gefühle.
Erstaunlicher Nebeneffekt: Die kleine Familie wächst näher zusammen! Zugleich sei da diese bohrende Ungewissheit gewesen – und der Wunsch nach der Wahrheit. Kristina: «Sind meine Eltern aus der Schweiz oder vielleicht aus Österreich? Immer wieder sagen mir Leute, dass mein Gesicht asiatische Züge aufweist.» Dass ihre leiblichen Eltern aus Russland stammen – möglich wärs!
Als Kristina V. Doktor Zech mit dem Resultat des DNA-Tests konfrontiert, gibt der Reproduktionsmediziner sofort zu, dass es zu einer Verwechslung gekommen sein muss. In einem Gespräch vor Zeugen soll er zugegeben haben, er habe wohl zwei Petrischalen vertauscht, und bietet der jungen Frau zuerst 300 000 Euro an, später eine halbe Million, wenn sie die Sache für sich behält.
Doch Kristina will wissen, wer ihre Eltern sind, lässt nicht locker, schreibt viele Briefe an Zech, mehrere Gespräche sind die Folge. Zunächst gibt der Arzt an, es seien keine Unterlagen aus dem Jahr 1990 mehr vorhanden. Später liefert er die Namen von drei Paaren. Doch mit Einverständnis der Betroffenen durchgeführte DNA-Tests bringen kein Ergebnis – die leiblichen Eltern von Kristina V. bleiben verschollen.
Der Anwalt von Herbert Zech, Michael Konzett: «Dass die Verwechslung im Labor der Kinderwunschklinik von Doktor Zech geschah, ist nicht bewiesen.» Man wolle nichts vertuschen. Das Geldgebot sei auch kein Schuldeingeständis sondern, dazu gedacht gewesen, Kristina V. «unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Situation und der Möglichkeit einer Verwechslung» eine finanzielle Unterstützung zu gewähren. Man wolle sie bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern unterstützen. Ein Gang an die Öffentlichkeit sei allerdings wenig aussichtsreich. Die 25-Jährige geht durch eine schwierige Zeit: «Jetzt, nachdem die Verwechslung bekannt wurde, sagen Nachbarn und Bekannte: Klar, wir gingen immer davon aus, dass Kristina adoptiert war.»
«Ich fühle mich entwurzelt»
Im Nachhinein erscheinen auch viele Begebenheiten aus ihrer Kindheit in einem anderen Licht: «Schon bei mir als Kleinkind beobachtete meine Mutter einen traurigen Wesenszug. Ich habe damals verloren gewirkt. Es ist fast nicht in Worte zu fassen – aber wahrscheinlich fühlte ich mich entwurzelt.»
Ob die Reproduktionsklinik bei der Suche nach Kristinas Eltern tatsächlich helfen kann, ist fraglich. Laut Klinikanwalt Konzett seien keine weiteren Angaben von Patienten aus dem Sommer 1990 vorhanden. «Es wurden nur Daten von Patienten aufbewahrt, die später dort weiter behandelt wurden oder an einer Studie teilnahmen.»
Deshalb versucht Kristina V. ihre genetischen Eltern nun auf dem Rechtsweg und über den Gang an die Öffentlichkeit zu finden – eine Verhandlung vor Gericht steht noch aus.
Dabei wird sie von ihrer Familie unterstützt: «Auch meine Mutter will Gewissheit haben.» Kristina V. hofft, dass ihre leiblichen Eltern von dem Fall erfahren – und ebenfalls an der Wahrheit interessiert sind. Sie verspüre einfach dieses starke Gefühl, diesen Wunsch nach Gewissheit.
«Zu wissen, wer ich wirklich bin, ist doch mein Recht!»