Schriftstellerin Irena Brežná (71)
«Die Schweiz braucht Mitbürgerinnen mit einem Aussenblick»

Irena Brežná (71) hat lange nach einer neuen Heimat gesucht. Fündig wurde sie nicht. Sie schrieb stattdessen vom Recht auf Fremdheit und berichtete als Reporterin aus dem Osten Europas. Brežnás Blick auf die Welt ist unbequem – und darum wichtig.
Publiziert: 10.10.2021 um 15:03 Uhr
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Irena Brežná ist Schriftstellerin, Journalistin und Dolmetscherin. Sie wurde soeben sowohl mit dem Basler Kulturpreis als auch dem Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums ausgezeichnet.
Foto: Thomas Meier
Interview: Aline Wüst

Irena Brežná, Sie sind in der Tschechoslowakei aufgewachsen und im Alter von 18 nach Basel emigriert. Dort leben Sie bis heute. Nun wurden Sie mit dem Basler Kulturpreis geehrt. Ein gutes Gefühl?
Irena Brežná: Das Schöne an diesem Preis ist, dass er mir nicht für ein konkretes Buch oder eine Reportage verliehen wird, sondern für «die Verschränkung von Leben und Schreiben» und das «Engagement zugunsten der Menschenrechte». Es ist also eine Würdigung jenes Lebensstils, von dem meine Mutter kopfschüttelnd sagte: «So wie du lebst, kann man doch nicht leben.» Nun zeigt sich: Man kann, es wird sogar ausgezeichnet. Das ist für mich eine grosse Genugtuung und vor allem Freude.

Sie sind Schriftstellerin, Dolmetscherin, Kriegsreporterin. Sie wurden auch schon als «die beste Einwanderin der Schweiz» bezeichnet. Wie beschreiben Sie sich?
Je nachdem, was ich gerade tue. Als Schreibende bin ich entweder Schriftstellerin oder Journalistin, und wenn ich dolmetsche, dann eben Dolmetscherin. Das trenne ich. Für meinen Emigrationsroman «Die undankbare Fremde» habe ich eine Ausnahme gemacht und beide Berufe miteinander vermischt. Aber ob ich nun schreibe oder dolmetsche: Beides ist Arbeit mit dem Werkzeug der Sprache.

Ihr Leben ist Wandeln in unterschiedlichen Sprachen.
Ja, aber es gibt eine sprachliche Konstante: Ich war dreissig Jahre alt, als ich mich entschloss, auf Deutsch zu schreiben, und dabei bin ich geblieben. Ich flirte zwar manchmal mit der Muttersprache, wenn eine slowakische Zeitung bei mir eine Kolumne bestellt. Aber ich finde, dass ich auf Slowakisch sprachlich nicht innovativ bin. Ich wage nicht zu experimentieren, wie es in einer fremden Sprache möglich ist. Die Muttersprache bedeutet für mich vor allem starke emotionale Assoziationen.

Mögen Sie Schweizerdeutsch?
Das Schreiben in einer fremden Sprache ist für mich immer noch eine grosse Herausforderung. Ich besitze meine Schreibsprache nicht, ich muss sie mir immer wieder neu erarbeiten. Und da Schweizerdeutsch nicht in mein Schreibprogramm passt, habe ich keinen Zugang dazu gesucht. Ich bitte alle, mit mir Hochdeutsch zu sprechen.

Für mich sind Ihre Texte auch ein Fenster zum Osten Europas. Ich schäme mich immer wieder, wie wenig ich doch darüber weiss. Das geht vielen so.
Dieses Nichtwissen verletzt mich nicht mehr. Es belustigt mich eher, wenn die Slowakei mit Slowenien verwechselt wird oder jemand sich auf die Reise hinter die Donau aufmacht und es als Mutprobe versteht. Dieser grosse geografische Raum wird als diffuse Leere wahrgenommen, vor der es dem Westen etwas mulmig wird.

Sie springen in die Lücke.
Ich übernehme schreibend die Rolle einer Vermittlerin. In Mittelosteuropa gibt es auch Mythen über den Westen, aber meist blickt man auch heute noch bewundernd Richtung Westen. Und vor allem mit mehr Kenntnis, als es umgekehrt der Fall ist. Es wird zwar über den Abbau des Rechtsstaates in Polen und in Ungarn berichtet, aber weniger über den Widerstand dagegen. Es sei denn, wir sehen stolze Polinnen, die gegen das Abtreibungsverbot demonstrieren.

Was verpassen wir mit unserer beschränkten Sicht?
Als Anfang der 80er-Jahre sowjetische Dissidenten in den Westen ausgebürgert wurden, interviewte ich sie für deutschsprachige Zeitungen. Diese Frauen und Männer, die direkt aus dem Gulag kamen, brachten mir die gute Botschaft von der inneren Freiheit. Sie zeigten mir, für welch hohen Preis und Treue zu sich selbst sie für die freie Meinungsäusserung eingestanden sind. Sie ermutigten mich durch ihre kompromisslose Haltung, meinen eigenen Weg zu gehen.

Was wollen Sie damit sagen?
Dass es nicht darum geht, jenen bloss mitfühlend beizustehen, die mehr als wir gelitten haben, sondern ihnen auch zuzuhören, wie und mit welchen Strategien sie schwierige Situationen überstanden haben. Das ist bereichernd. Mittelost- und Osteuropa können durchaus inspirierend sein.

Wie wichtig ist in Ihrem Arbeiten, dass Sie eine Frau sind?
Die Welt nehme ich als Frau wahr, und zwar in einer mal mehr, mal weniger patriarchalen Gesellschaft. Früher als junge Frau, dann als Mutter und jetzt als ältere Frau. Es hat Vor- und Nachteile. Für meine Reportagen über die Tschetscheninnen im Krieg war das weibliche Geschlecht geradezu eine Vorbedingung. Einem Mann hätten sich die Tschetscheninnen nicht so anvertraut wie einer Reporterin.

Der weibliche Blick ist also unabdingbar, um das Ganze zu sehen.
Irgendwann in den 90er-Jahren kam im Journalismus der Trend auf, statt nüchtern und quasi objektiv persönlicher schreiben zu dürfen oder gar zu sollen. Als ich dem «Tages-Anzeiger»-Magazin die Reportage vorschlug, hat der Chefredaktor den weiblichen Blick auf den Krieg als Chance gesehen. Natürlich schrieben auch früher Frauen über den Krieg. Der Kriegsberichterstatter aber war doch in der Regel ein Mann. Ich hatte nicht vor, über den Frontenverlauf zu informieren, sondern eben über Zivilistinnen im Krieg. Und zwar nicht nur über jene, die den gefallenen Sohn beweinen. Ich schrieb über aktive Friedensfrauen.

Was treibt Sie an, Menschen von der Welt zu berichten?
Wenn ich von einer ungewöhnlichen Geschichte erfahre, in der ich Kraft sehe, will ich diese Stärke weitergeben. So beschrieb ich auch die Tschetscheninnen im Krieg. Als starke Frauen, vor denen man Respekt hat. Gerade weil die Lebensumstände so furchtbar sind. Ich will meine Leser und Leserinnen und mich selbst nicht mit Texten deprimieren, die nur von Gräueln handeln. Ich suche überall nach einem Funken Heldentum. Nach einem kleinen Ansatz zum Widerstand. Erst im Schreiben verstehe ich die Geschichten tiefer, ihre Logik und Dynamik. Schreiben ist Denken.

Leitete sich eine Verantwortung daraus ab, in einer Demokratie zu leben?
Wenn man Zugang zu freien Medien hat, selbst nicht unter einem allzu erschöpfenden Überlebensdruck lebt und den moralischen Impuls in sich spürt, sich mit Schicksalen von Verfolgten zu befassen, ist das eine edle Geste. Es gibt genug Beispiele von Schreibenden, die es taten.

Denken Sie an jemand Bestimmtes?
Am letzten Sonntag hielt ich einen Vortrag in Osnabrück in der Reihe «Europa sieht Deutschland». Danach wurde ich durch das Remarque-Museum geführt. Erich Maria Remarque stammte aus Osnabrück, zog in den Dreissigerjahren ins Tessin. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg sammelte er Zeugnisse von Fliehenden, die ihn heimlich in seiner Villa am Lago Maggiore besuchten. Er half ihnen mit Papieren, mit Geld, ohne dass die offizielle Schweiz es erfuhr, damit sie ihn nicht daran hindern konnte.

Warum handelte Remarque so?
Er sah durch die beunruhigenden Berichte der Geflüchteten den Krieg kommen, nahm die Verantwortung wahr und warnte davor.

Was kann ein einzelner Mensch gegen Unrecht tun?
Mir half die Entdeckung der Unvollkommenheit bei all den Ideen, die ich versuchte zu verwirklichen: Etwas gelingt ziemlich gut, anderes ist stümperhaft oder löst sich im Nichts auf. Das ist schade, aber es geht weiter. Die nächste Idee packt mich – und hurra, jemand beteiligt sich daran. Das klingt recht naiv. Aber Naivität kennt dafür Begeisterung, und die ist ein nützlicher Motor.

Wie meinen Sie das?
Wenn ich all die Schwierigkeiten von vornherein kenne, fange ich wohl gar nichts an. Ich will hier aber nicht einen fahrlässigen Dilettantismus propagieren. Ich will ermutigen. Es ist möglich, etwas zu bewirken, und zwar auch als ziemlich unbedarfter Einzelmensch ohne grosse Struktur und viel Geld.

Erzählen Sie ein Beispiel dazu aus Ihrem Leben.
Als ich in den Krieg in den Nordkaukasus zog, blendete ich aus, was Krieg überhaupt bedeutet. Also wie man sich vor Minen und Scharfschützen schützt und dass man nach der Rückkehr an der Migros-Kasse eine Panikattacke bekommt und dann die nächste im Zug oder auf dem Spaziergang. Ich holte mir professionelle Hilfe, kaufte Bücher über posttraumatische Störungen, wurde allmählich gesund und fuhr nicht mehr in den Krieg. Aber ich schrieb weiterhin über Tschetscheninnen, die als Geflüchtete nach Europa kamen.

Wo ist Ihre Heimat?
Jemand sagte es treffend: Heimat ist etwas für Kinder und Nationalisten.

Sahen Sie das immer so?
In den ersten Exiljahren habe ich unter dem Heimatverlust gelitten und mich in der halben Welt nach einer Ersatzheimat umgeschaut.

Sie wurden nicht fündig.
Nein. Ich gab es auf und habe mich in einem Schwebezustand eingerichtet – in der Realität einer Emigrantin. Ich habe allmählich gelernt, damit umzugehen. Es geht mir darum, die schwebende Perspektive auszuhalten. Es mit Zugehörigkeit zu Einzelnen oder zu kleinen, wechselnden Gruppen zu kompensieren und mich nicht einer Illusion über das Ankommen in einem Land hinzugeben.

Was trat an die Stelle der Illusion?
Ich entdeckte Emigration als Fenster zur Welt. Ich übernahm nicht die gängige Vorstellung, dass Einwanderer in einer neuen nationalen Gemeinschaft aufgehen sollen. Ich behalte Abstand. Und nutze ihn für das Schreiben. Die Schweiz braucht schliesslich Mitbürger und Mitbürgerinnen mit einem Aussenblick. In meinem Roman fordert die Protagonistin sogar das Recht auf Fremdheit.

Die Suche nach Heimat ist für Sie also abgeschlossen.
Falle ich in gewissen Momenten in alte Denkmuster zurück und sehne mich nach einer nationalen Heimat, dann rede ich mir zu: Was soll das – du hast doch darüber genug geschrieben und dieses Kapitel abgeschlossen. Und übrigens sind nicht nur Emigrierte heimatlos, sondern auch etliche Einheimische. Bloss werden sie nicht ständig gefragt: Bist du endlich angekommen?

Irena Brežná

Die slowakisch-schweizerische Schriftstellerin und Journalistin Irena Brežná (71) studierte Slawistik, Psychologie und Philosophie an der Universität Basel. Ihr Roman «Die undankbare Fremde» wurde 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Dieses Jahr hat sie sowohl den Basler Kulturpreis als auch den Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums erhalten, letzterer wurde zum ersten Mal überhaupt in die Schweiz vergeben. Zuletzt erschien von ihr «Wie ich auf die Welt kam. In der Sprache zu Hause» im Rotpunkt-Verlag. Brežná dolmetscht ausserdem für Behörden, Gerichte und Schulen aus dem Russischen, Slowakischen und Tschechischen. Sie engagierte sich bei Amnesty International und als Frauenrechtlerin für Projekte von Guinea bis Tschetschenien. Brežná lebt in Basel und hat zwei Söhne.

Die slowakisch-schweizerische Schriftstellerin und Journalistin Irena Brežná (71) studierte Slawistik, Psychologie und Philosophie an der Universität Basel. Ihr Roman «Die undankbare Fremde» wurde 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Dieses Jahr hat sie sowohl den Basler Kulturpreis als auch den Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums erhalten, letzterer wurde zum ersten Mal überhaupt in die Schweiz vergeben. Zuletzt erschien von ihr «Wie ich auf die Welt kam. In der Sprache zu Hause» im Rotpunkt-Verlag. Brežná dolmetscht ausserdem für Behörden, Gerichte und Schulen aus dem Russischen, Slowakischen und Tschechischen. Sie engagierte sich bei Amnesty International und als Frauenrechtlerin für Projekte von Guinea bis Tschetschenien. Brežná lebt in Basel und hat zwei Söhne.

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