Arbeitslos trotz Uni-Diplom
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Schwieriger Jobmarkt:Arbeitslos trotz Uni-Diplom

Wer es auf dem Jobmarkt besonders schwer hat
Arbeitslos trotz Uni-Diplom

Unter den Langzeit-Arbeitslosen sind immer mehr Hochqualifizierte. Ein Betroffener macht dafür auch die Arbeitsämter verantwortlich.
Publiziert: 07.03.2020 um 23:37 Uhr
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Aktualisiert: 10.03.2020 um 14:50 Uhr
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Eine neue Studie über Langzeiterwerbslose kommt zu einem überraschenden Schluss.
Foto: Keystone
Camilla Alabor

Spektakuläre Nachrichten vom Schweizer Arbeitsmarkt sind selten – doch in der Statistik versteckt sich ein ungewöhnlicher Zuwachs: Von 2010 bis 2018 stieg die Anzahl der Langzeit-Erwerbslosen um 22 Prozent, also mehr als ein Fünftel, von etwa 65'000 auf rund 80’000 (siehe Grafik). All diese Betroffenen waren länger als ein Jahr ohne Arbeit.

So zeigt es eine gerade abgeschlossene Studie, die das Staatssekretariat für Wirtschaft in Auftrag gegeben hatte. Die Zahlen beziehen sich auf Personen zwischen 25 und 65 Jahren – und sie enthalten noch eine weitere Überraschung.

Viele Ü45 und Hochqualifizierte

Dieselbe Studie untersucht, welche Gruppen vermehrt unter langer Erwerbslosigkeit leiden. Das Resultat: Neben den über 45-Jährigen sorgten vor allem Akademiker für den aussergewöhnlichen Zuwachs. Also ausgerechnet jene, die einen Uni- oder Fachhochschulabschluss in der Tasche haben. 2018 machten die Hochschulabsolventen bereits einen Viertel der Langzeit-Erwerbslosen aus.

Was steckt hinter diesem Phänomen? Rebekka Masson setzt sich mit ihrem Verein Modell F dafür ein, älteren Mitarbeitern den Zugang zu Weiterbildungen zu vereinfachen. Sie erklärt: «Auch ein akademischer Abschluss schützt heute nicht mehr vor Stellenabbau.» Wenn in gewissen Branchen die Betriebe reihenweise Stellen abbauen – wie im Maschinenbau- und Energiesektor –, seien davon alle betroffen: vom Chefentwickler bis zum Fabrikarbeiter.

«Dabei ist es für hochspezialisierte Leute unter Umständen schwieriger, einen neuen Job zu finden, als für andere», sagt Masson. «Oft haben sie über Jahre auf einem Feld eine hohe Kompetenz entwickelt. Wenn ihre Arbeit durch ein digitalisiertes System ersetzt oder die Produktion ausgelagert wird, sind ihre Kenntnisse plötzlich nicht mehr gefragt.»

Mit 60 Jahren arbeitslos

Zu den Hochqualifizierten gehört auch Romain Baumann (62). Der Elektroingenieur war zwölf Jahre in einer Energiefirma tätig, bis 2017 der Chef wechselte und ihm gekündigt wurde. Im Alter von 60 Jahren musste Baumann plötzlich eine neue Stelle suchen. Trotz langjähriger Arbeitserfahrung und ETH-Diplom fand er nichts.

Die Arbeitsvermittlung sei leider nicht auf solche Fälle eingestellt, sagt der Solothurner. Er hätte sich gut vorstellen können, in einem ganz anderen Bereich tätig zu werden. «Doch damit war das Arbeitsamt überfordert.» Das heutige System gehe wenig flexibel davon aus, dass jeder Arbeitslose wieder in seinen ursprünglichen Job zurückkehren könne. Baumann: «Das entspricht schlicht nicht der Realität.»

Nach zwei Jahren erfolgloser Arbeitssuche ist der Ingenieur heute ausgesteuert. Aber aufgeben will er nicht. Nach einem Beratungsgespräch mit dem Arbeitnehmerverband Save 50Plus Schweiz hat sich Baumann entschieden, die Neuorientierung selbst in die Hand zu nehmen.

Vor kurzem hat er einen Kurs als Ernährungsberater beendet. Nun überlegt er, auch noch die Qualifikation eines Erwachsenenbildners zu erwerben. «Wenn ich selbständig oder auf Mandatsbasis arbeite, spielt mein Alter keine Rolle», so Baumanns Überlegung. Noch zögert er allerdings, die zweite Ausbildung zu beginnen: «Ich habe keine Garantie, dass sich diese Investition am Ende auszahlt.»

Weiterbildung ohne Nachteile

Genau solche Wechsel von einer Branche in die andere unterstützt das Projekt Informa, das Masson mit Unterstützung des Staatssekretariats für Wirtschaft entwickelt hat: Es soll erfahrenen Berufsleuten eine Weiterbildung ermöglichen – während der Arbeit oder bei einer allfälligen Arbeitslosigkeit.

Teilnehmer von Informa können sich ihre berufliche Erfahrung in der Weiterbildung anrechnen lassen. Das verkürzt Ausbildungsdauer und -kosten. Jederzeit möglich ist auch, das Studium ohne Angabe von Gründen zu unterbrechen und später wiederaufzunehmen. Das kommt Arbeitgebern entgegen, die flexible Mitarbeiter wollen.

«Meine Diplome waren quasi wertlos»

Markus Vogel* (53) hat an einem Pilotprojekt von Modell F im Kanton Aargau teilgenommen – und ist begeistert. Der Betriebswirt, ein gelernter Elektroniker, hatte 2016 seine Stelle verloren und schrieb Bewerbung um Bewerbung. Ohne Erfolg: «Meine Diplome waren veraltet und damit quasi wertlos», sagt Vogel.

Er überlegte sich, ein Fernstudium zu machen, als er bei seiner Recherche auf das Pilotprojekt von Modell F stiess; in gewissen Kantonen steht das Projekt auch Arbeitslosen offen.

2017 konnte Vogel eine Ausbildung als Wirtschaftsinformatiker beginnen. Das erwies sich als Türöffner: «Ich schrieb weniger Bewerbungen als früher und wurde dennoch öfter für ein Gespräch eingeladen.» Vogel glaubt: Allein die Erwähnung des Studiums habe seine Aussichten verbessert, zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.

Mindestens ebenso wichtig findet Vogel den psychologischen Effekt. «Plötzlich hatte ich das Gefühl, die Zeit schafft für mich – und nicht länger gegen mich. Das hat mein Selbstbewusstsein gestärkt.» Heute arbeitet der 53-Jährige in einem «super Unternehmen» als Projektleiter in der Wirtschaftsinformatik. Und dies, noch bevor er seine Ausbildung abgeschlossen hat.

* Name geändert

Arbeitslose: Darum täuschen die guten Zahlen

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist mit 2,3 Prozent relativ tief. Allerdings zeichnet die Arbeitslosenquote tendenziell ein zu positives Bild, erfasst diese Statistik doch nur jene Personen, die bei der kantonalen Arbeitsvermittlung gemeldet sind. Deutlich höher fällt mit 4,4 Prozent dagegen die Erwerbslosenquote aus, die breiter gefasst ist: Zu den Erwebslosen zählen alle stellenlosen Personen, die einen Job suchen – selbst wenn sie nicht bei einem RAV eingeschrieben sind. Dazu gehören beispielsweise Ausgesteuerte, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengelder mehr haben. Oder Mütter, die wieder einen Job suchen. Als Langzeit-Erwerbsloser gilt, wer über ein Jahr ohne Stelle ist und weiterhin aktiv nach einer solchen sucht.

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist mit 2,3 Prozent relativ tief. Allerdings zeichnet die Arbeitslosenquote tendenziell ein zu positives Bild, erfasst diese Statistik doch nur jene Personen, die bei der kantonalen Arbeitsvermittlung gemeldet sind. Deutlich höher fällt mit 4,4 Prozent dagegen die Erwerbslosenquote aus, die breiter gefasst ist: Zu den Erwebslosen zählen alle stellenlosen Personen, die einen Job suchen – selbst wenn sie nicht bei einem RAV eingeschrieben sind. Dazu gehören beispielsweise Ausgesteuerte, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengelder mehr haben. Oder Mütter, die wieder einen Job suchen. Als Langzeit-Erwerbsloser gilt, wer über ein Jahr ohne Stelle ist und weiterhin aktiv nach einer solchen sucht.

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