Lukas Bärfuss fordert Reformen
Die Demokratie ist tot – es lebe die Demokratie

Die Welt verändert sich rasend schnell. Nur eines bleibt seit Jahrhunderten gleich: die Demokratie. Lukas Bärfuss erklärt, wieso unser politisches System mehr braucht als Gesetzesreformen – im ersten Teil seiner neuen Serie.
Publiziert: 12.01.2020 um 19:54 Uhr
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Die Welt verändere sich rasend schnell, schreibt Lukas Bärfuss. Eines bleibt seit Jahrhunderten gleich: die Demokratie.
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

Vor einigen Tagen traf ich zufällig einen Bekannten. Er arbeitet als Professor an einer Hochschule. Wir hatten uns länger nicht gesehen, und ich erkundigte mich nach seinem Befinden. Es gehe ihm gut, meinte er, beruflich sei er allerdings sehr eingespannt. Eine Strukturreform halte ihn und die ganze Schule auf Trab. Ich stutzte. Beim letzten Treffen hatte er dasselbe berichtet, und wenn ich mich richtig erinnerte, genau das Gleiche auch beim vorletzten. Seit ich ihn kenne, folgt eine Reform der anderen. Eine Pause scheint es nicht zu geben. Ständig müssen die Abläufe und die Reglemente den veränderten Bedingungen angepasst werden.

Wer sich über diese Reformwut lustig macht, hat die Volksseele auf seiner Seite. Ob in der Wirtschaft, in der Verwaltung oder an den Universitäten – alle stöhnen über die ständigen Anpassungen. Und obwohl wir im Spätkapitalismus leben, mag man sich oft an Leo Trotzki erinnert fühlen. Er war es, der eine institutionalisierte Revolution gefordert hatte, eine beständige Zerstörung der alten und gleichzeitige Erschaffung neuer Strukturen. Natürlich gefällt das den Menschen in ihrer evolutionär bedingten Faulheit nicht. Aber Faulheit, wir wissen es, muss man sich leisten können, und da man in einem ständigen Konkurrenzkampf steht, stöhnt man leise und schickt sich in die nächste Reform.

Fast alle Lebensbereiche verändern sich. Wie ein Mensch vor dreissig Jahren gelebt hat, kann man sich kaum mehr vorstellen. In der Medizin, in der Biologie, in der Informationsverarbeitung – Grenze um Grenze fällt. Ja, das Tempo der Veränderung ist erstaunlich – die Klagen darüber sind zu einem Gemeinplatz verkommen. Man mag sie nicht mehr hören.

Besser wäre es, sich an der Dynamik zu erfreuen und sie als Zeichen der ­Lebendigkeit zu begreifen. Die Krise, in der sich unsere Zeit befindet, ist nicht eine Folge des Wandels. Ganz im Gegenteil, sie ist die Folge einer Stagnation. Zu einem wesentlichen Teil leben wir nämlich noch wie unsere Urgrosseltern. Die moderne Gesellschaft funktioniert in Strukturen, die im Wesentlichen vor dreihundert Jahren entwickelt wurden.

Der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat gründet auf Ideen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Montesquieus «Vom Geist der Gesetze», in dem er das Prinzip der Gewaltenteilung entwarf, erschien 1748. «Der Gesellschafts­vertrag» von Rousseau, der die Gerechtigkeit ins Zentrum der staatlichen Ordnung stellt, im Jahre 1762.

Aus einer ganz anderen Zeit

Gemessen am wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt ist das unfassbar lange her. Vor zweihundertfünfzig Jahren gab es in unseren Städten weder Kanalisation noch Strassenbeleuchtung. Die Ärzte besassen nur rudimentäre Kenntnisse über die physiologischen Vorgänge, sie hatten keine Vorstellung von Bakterien und verstanden den Zusammenhang zwischen Hygiene und Gesundheit nicht.

Physiker machten sich keinen Begriff von den Atomen, keiner verstand, durch welche Kraft die Elektrizität zustande kommt. Kurzum: Ein Mensch von 1750 würde sich im 21. Jahrhundert nur sehr schwer zurechtfinden, und es ist deshalb sehr unwahrscheinlich, dass Rousseau oder Montesquieu ausgerechnet für das Zusammenleben freiheitsliebender Menschen die endgültige, perfekte Staatsform gefunden haben. Und selbst wenn dies durch ein Wunder an Genialität trotzdem der Fall sein sollte: Die Welt und unser Wissen darüber haben sich seither verändert – warum sollte ausgerechnet die Staatsform davon ausgenommen sein?

Nun reformieren sich Demokratien sehr wohl, und zwar gleich auf doppelte Weise. Erstens mittels der Gesetze. Das Eherecht von 1988 ist gewiss ein anderes als jenes von 1907. Zweitens entwickeln sie sich seit ihrer Gründung durch die Erweiterung der Bürgerrechte. Thomas­ Jefferson, der dritte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, in der er poetisch und endgültig die Gleichheit der Menschen proklamiert – dieser Mann zeugte nach dem frühen Tod seiner Gattin mit einer gewissen Sally Hemmings sechs Kinder, einer Frau, die er mit Haut und Haaren besass, und zwar buchstäblich, nach Recht und Gesetz. Diesen Demokraten schien die Sklaverei nicht zu stören. Erst 39 Jahre nach Jeffersons Tod wurde sie abgeschafft. Wer sich darüber empört, mag daran denken, dass die Schweizer Bürger vor 1971 glaubten, sie würden in einem demokratischen, freiheitlichen Rechtsstaat leben, und dies, obwohl mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung, den Frauen, das Stimm- und Wahlrecht verweigert wurde. Vielleicht wird man es in naher Zukunft ebenso unverständlich finden, dass wir einem Drittel der Bevölkerung, den niedergelassenen Ausländern, die Bürgerrechte verwehren.

Der Staat – ein 300 Jahre altes Haus

Demokratien sind also reformierbar, allerdings nur innerhalb der bestehenden Strukturen. Die Gesetzgebungsprozesse, die Wahlen, die Prozessordnungen, das alles blieb mehr oder weniger unangetastet. Was den Staat betrifft, so leben wir in einem Haus, das dreihundert Jahre alt ist. Wir haben Fenster und Türen ausgewechselt, wir haben neue Böden verlegt – aber die tragenden Wände und die Fundamente wurden niemals angetastet. Und langsam merken wir, dass uns dieses Gebäude im 21. Jahrhundert wohl keinen ausreichenden Schutz gewährt.

Die Briten mussten es schmerzlich erleben. Ein Plebiszit, aus Machtkalkül von einem verantwortungslosen Premierminister verordnet, demokratisch allerdings legitim und rechtlich legal, hat das Land gespalten. Besonders grausam und absurd: Obwohl die Mehrheit der Bürgerinnen für einen Verbleib in der Europäischen Union ist, bringt ein dysfunktionales Wahlsystem einen Mann an die Macht, der sich den Brexit auf die Fahnen geschrieben hat.

Die USA, das Mutterland der Demokratie, stehen seit längerem nur einen Schritt vor einer Verfassungskrise. Der Kongress, der den Präsidenten kontrollieren soll, kann diesem zwar befehlen, gewisse Dokumente auszuhändigen, dazu zwingen kann er ihn allerdings nicht. Wie denn auch? Die Legislative hat schliesslich keine Polizei, und wenn der Präsident das Prinzip der Checks and Balances nicht respektiert und sich dem Befehl widersetzt, wird deutlich, wie recht Ernst Wolfgang Böckenförde mit seinem berühmten Wort hatte und der moderne, säkularisierte Staat tatsächlich von ­Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren könne.

Frankreich, die Heimat der modernen Republik, ist seit Monaten gelähmt. Der Streit über die Reform der Altersvorsorge kann durch die Parteien oder die institutionelle Politik nicht einmal dargestellt, geschweige denn gelöst werden. Die Politik hat sich, wie schon im Fall der Gelbwesten, auf die Strassen verlagert. Mit allen fatalen Folgen. Die Demokratie steht still.

Das sind nur die aktuellsten Beispiele. In vielen Ländern hebt sich das Haupt des Despotismus. Warum plötzlich diese Regression? Warum glauben immer weniger Menschen an den Wert der eigenen Freiheit? Vielleicht, man wagt es kaum auszusprechen, vielleicht, weil sich die Lebenszeit des freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaates ihrem Ende zuneigt?

Diese Vorstellung wird nur jenen Angst machen, die diese Staatsform als Selbstzweck begreifen. Doch die moderne Demokratie ist nur ein Mittel, um die Freiheit des Einzelnen zu garantieren und ihn vor Willkür und dem Recht des Stärkeren zu schützen.

Ein Despot im achtzehnten trug eine andere Gestalt als einer im einundzwanzigsten Jahrhundert. Die Zwänge, die uns Zeitgenossen bedrohen, haben andere Formen. Wirtschaftliche Macht hält sich immer weniger an die Gesetze. Und der Rechtsstaat ist in vielen Fällen gegen diese Verbrechen wehrlos. Zum Beispiel deshalb, weil nach der Vorstellung des achtzehnten Jahrhunderts der Staat ein physisches Territorium, ein Hoheitsgebiet braucht. Doch räumliche Grenzen haben sich durch die Digitalisierung weit­gehend aufgelöst. Geld und Informationen bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit. Sie halten sich an keine Grenzzäune.

Wer setzt Gesetze für Google durch?

Ein anderes Beispiel für die Hilf­losigkeit unserer Staatsform liefern die sozialen Medien. Sie haben die bisherige Struktur der medialen Öffentlichkeit völlig zerstört. Und auch hier sieht sich der Staat ausserstande, etwas dagegen zu tun. Die öffentlich-rechtlichen Medien stehen in einer globalisierten Konkurrenz, aber sie rechtfertigen und finanzieren sich national. Gesetze, an die sich auch Facebook und Google halten? Sehr gerne! Aber wer soll diese erlassen – und vor allem: Wer soll diese durchsetzen? Die Kantonspolizei wahrscheinlich nicht – aber wer dann?

Das sind keine Gedankenspiele. Wenn sich ein System zu weit von der Wirklichkeit entfernt, dann wird über kurz oder lang nicht die Wirklichkeit, sondern das System weichen müssen. Und man befürchtet, dass wir uns bereits in dieser Phase befinden. Die Not ist gross – aber weil die Not, wie die Redensart weiss, erfinderisch macht, müssten auch die Ideen zahlreich sein. Seltsamerweise herrscht in dieser Sache weitgehend Schweigen. Staatspolitische Fragen werden nur selten breit diskutiert. Die politischen Parteien sind dazu offenbar nicht in der Lage. Dabei würden unsere Demokratien genau diese Auseinandersetzung dringend benötigen.

Damit ein Anfang gemacht ist, sollen hier, an dieser Stelle, jeden Monat die besten, ungewöhnlichsten und erstaunlichsten Ideen vorgestellt, diskutiert und kritisiert werden.

Wie müssen unsere Institutionen aussehen, damit sie das Allgemeinwohl befördern und die Rechte des Einzelnen schützen? Wie muss demokratische Herrschaft heutzutage funktionieren, damit sie gerecht und damit gerechtfertigt ist?

Ob wir die Verwirklichung dieser Ideen noch erleben werden? Mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht. Sollte uns das kümmern? Ganz im Gegenteil, es sollte uns anspornen. Rousseau und Montesquieu lebten schliesslich auch in Systemen, in denen eine winzige Minderheit über eine Mehrheit regierte. Sie waren nicht frei, aber ihre eigene Unfreiheit hat die beiden Männer nicht daran gehindert, die neue Zeit zu denken, für die kommenden Generationen die Bedingungen zu definieren, durch die Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität möglich werden. Warum sollten wir Zeitgenossen nicht endlich dasselbe versuchen?

Lukas Bärfuss ist der ­wichtigste zeitgenössische Schweizer Schriftsteller – und macht sich im SonntagsBlick Magazin jeden Monat Gedanken über Ideen, die die Welt verbessern könnten.

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