Den riesigen Pranken von Walter Kocher (59) möchte man lieber nicht in die Quere kommen. Dabei sieht man den Händen einfach nur an, was Kocher über vier Jahrzehnte lang getan hat: gekrampft. Mehr als 20 Jahre davon auf dem Bau.
2016 war Schluss: Sein Meister stellte ihn auf die Strasse. «Wirtschaftliche Gründe», stand im Kündigungsschreiben. «Das geht vielen Alten auf dem Bau so», sagt Kocher. «Und kaum sind sie weg, werden Junge eingestellt. Die sind halt billiger.»
Bei Arbeitnehmern über 50 schlagen vor allem die höheren Sozialabgaben zu Buche. Und ja, ab dann nimmt halt auch die Leistungsfähigkeit ab. «Man bringt nicht mehr so viel Profit wie ein Junger», gibt der Berner zu.
Kocher hat Glück – Jüngere vielleicht nicht mehr
Nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit würde Kocher die Aussteuerung drohen. Doch er hat Glück im Unglück. Dank einer Sonderregelung für den Bau wird er am 1. August frühpensioniert. Und kann Zeit mit seinen bald vier Enkelkindern verbringen, für die er jetzt schon fleissig Holzspielzeug bastelt.
Allerdings steht die Frührente auf der Kippe. Weil die Babyboomer-Generation ins Rentenalter kommt, ist die Stiftung Flexibler Altersrücktritt (FAR) in finanzielle Schieflage geraten (BLICK berichtete). Die Baumeister fordern nun, dass die Büezer entweder länger arbeiten oder auf einen Drittel der Rente verzichten.
Das macht den sanftmütigen Kocher wütend: «Ich bekomme abzüglich AHV- und Pensionskassenbeiträgen rund 4300 Franken. Setzen sich die Baumeister durch, bleiben mir noch etwa 3000 Franken. Davon kann man nicht leben.» Länger zu arbeiten, sei auch keine Option: «Ich weiss nicht, ob ich bis 65 durchgehalten hätte.»
Nur 20 Prozent erreichten Rentenalter 65
Die Statistik gibt ihm recht: Vor 20 Jahren erreichte nur jeder fünfte Bauarbeiter gesund das Rentenalter 65. 80 Prozent wurden entlassen, invalid oder verstarben sogar. Auch darum gilt die Rente mit 60 auf dem Bau als sozialpolitischer Meilenstein. Der sich für die Arbeitgeber ebenfalls rechnet: Die IV-Risikoprämie der Baumeister-Pensionskasse ist seitdem von acht Prozent auf unter zwei Prozent gesunken.
Eigentlich hatte Walter Kocher nie auf den Bau gewollt. Sein Traumberuf war Bauer, er wollte das elterliche Heimetli in Orvin BE übernehmen. Doch der Vater übergab den kleinen Hof Kochers jüngerem Bruder. Nach zwei Jahren auf der landwirtschaftlichen Schule sattelte der Ältere also um. Heiratete, wurde fünffacher Vater, ernährte seine Familie als Metzger, Lastwagenchauffeur, Zimmermann, Heizungsmonteur.
Stundenlang in «Chrüppelstellung»
Mit 39 – schon geschieden – verschlug es Kocher dann doch auf die Baustelle. Ohne Ausbildung schaffte er es zum Vorarbeiter im Strassenbau.
Noch heute kommt er ins Schwärmen. «Wer über eine Strasse fährt, sieht nur den Belag.» Doch darunter verstecke sich eine ganze Welt: Wasserleitungen, Kanalisation, Strom, Internet, Telefon. Heisst auch: Mit dem Bagger kommt man nicht weit.
«Stell dir vor, du machst die Internetleitung zwischen Bern und Paris kaputt. Der Schaden ginge in die Millionen.» Also ist Handarbeit angesagt – mit Schaufel und Pickel. «Du kannst nicht stehen, du kannst nicht sitzen, du kannst nicht knien.» Stundenlang in «Chrüppelstellung», egal ob die Sonne vom Himmel brennt oder es in Strömen giesst.
Berufsrisiko Arthrose
Am schlimmsten sei der Winter, sagt Kocher. Nicht weil es kalt ist, sondern feucht. «Du bist sofort nass bis auf die Haut.» Und im Strassenbau gebe es keine warme Baracke oder eine Beiz für die Pause. «Du isst auf der Baustelle und fängst an zu frösteln.» Die Folgen erlebt jeder Bauarbeiter früher oder später: Rheuma und Arthrose.
Die extreme Belastung macht auch jungen Bauarbeitern zu schaffen. Man weiss, dass Produktivität und Qualität der Arbeit am Vormittag am höchsten sind. Ab halb vier am Nachmittag nimmt die Leistungsfähigkeit ab. «Der Körper ist durch», so Kocher.
Ein Junger aber erhole sich schneller. Der liege zwei Stunden auf dem Sofa und ist dann wieder fit. «Mit 55», sagt Kocher, «bist du am nächsten Morgen noch fertig.» Irgendwann habe er literweise Dul-X-Schmerzsalbe gebraucht. «Einfach, damit ich am Abend nicht heule vor Schmerzen.»
«Da brichst du zusammen»
Geheult wird nur zu Hause. Auf der Baustelle markieren die Büezer den harten Mann. Kaum ein Älterer würde sich von einem Jüngeren helfen lassen, sagt Kocher. «Alle haben Angst, die Stelle zu verlieren. Und hocken drum aufs Maul.»
Die Frührente ist dann das Rüebli vor der Nase: «Ab 55 zählst du die Tage. Es ist hart, aber du sagst dir: Das ziehe ich jetzt durch, ich kann bald in Rente.» Es sei wie bei einem 100-Kilometer-Lauf: Bei Kilometer 80 sei man total erledigt, alles tue weh. Aber man beisse auf die Zähne und ziehe einfach durch. Dass Bauarbeiter jetzt länger arbeiten sollen, empfindet Kocher als Affront: «Wenn aus 100 plötzlich 120 Kilometer werden – das schaffst du nicht, da brichst du zusammen.»